Von Sibylle Offergeld
Das alttestamentarische Bild von den Wassern zu Babylon, an deren Ufern heimatlose Juden saßen und weinten, hat den italienischen Komponisten Salvatore Sciarrino zur Schöpfung seiner Oper „Superflumina“ inspiriert. Das Thema ist bewegend und transformierbar, ist zeitlos.
Nach der Uraufführung in Mannheim mit der Mezzosopranistin Anna Radziejewska blüht das Werk in der Aachener Inszenierung von Ludger Engels und Ric Schachtebeck wieder in der vorgegebenen Intensität und Dichte auf, wird erneut getragen und geprägt von der polnischen Künstlerin.
Wenn Anna Radziejewska von zarter Linearität zu schwerelosen Sprüngen in Koloraturhöhe ansetzt, wenn sie langgezogene Klangbänder anmutig pointiert zerstückelt, große Intervalle meistert und klare tonale Spitzbögen formt, dann entsteht kontrastreiche Spannung. Zwischen dunkler und heller Klangfarbe formen sich Gefühlsbilder eines Menschen in existenzieller Notlage und Ausgegrenztheit. Vor der stimmigen Kulisse eines großen Bahnhofs, dessen Perron den Zuschauerraum des Theaters zerteilt, wird das Drama fortschreitender Isolation treffend illustriert.
Menschenmassen schieben sich in einer Art sozialem Autismus wortlos hin und her. Die obdachlose Frau durchwühlt ihre Habeseligkeiten, inspiziert den Müll, wechselt auf den Schalensitzen für Wartende die Kleidung und kommuniziert mit den herumliegenden Utensilien.
Für sie singen Dinge wie Glasflaschen ein Lied. Sie werden zu Dialogpartnern und entwickeln Formen klingender Poesie. Vergeblich sucht die Frau den Kontakt mit Menschen, stößt bei Reisenden und Bahnhofspersonal auf Ablehnung, Zurückweisung, Unverständnis, Abgestumpftheit und Kälte. Ein junger Mann (Armin Gramer), ein eiliger Passant (Hrólfur Saemundsson), eine Sprecherin (Antonella Schiazza), ein Sprecher (Jorge Escobar) werden zu schemenhaften Randfiguren im inneren Entwurzelungsdrama der Frau. Ihre Geschichte bleibt imaginär, hat keine Kontinuität und endet im Nichts.
Unendlichkeit und inneres Getöse
Das Libretto des Komponisten in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln spricht vom Getöse der inneren Meere, vom Öffnen der Augen für das Unendliche. Das Orchester (Leitung: Peter Halász) und der Chor (Einstudierung: Andreas Klippert) brillieren in lautmalerischer Präzision.
Hier lyrisches Trillern, dort knarrendes, ächzendes, sirrendes Tönen, ein einsamer Bogenstrich wie ein dissonanter Aufschrei, Zugdurchsagen und immer wieder die Frau, die klagend nach der wärmenden Herde ruft, nach dem Schutz der Gemeinschaft und der verlorenen Gruppenseele.
Rund hundert Minuten lang schaffen Musik, Gesang, Bühnenbild und tänzerische Bewegung Impulse, die sich zu Erkenntnissen im Wertgefüge des Betrachters und Zuhörers verdichten. Da wird ihm klar: Im Zeitstrom der Gegenwart sitzt kaum einer im Gemeinschaftsboot.
Man segelt getrennt, hat sich kurzsichtig vom Kreislauf des zwischenmenschlichen Energieaustausches abgekoppelt, ersetzt soziale Kompetenz mit technisch-digitaler Vernetzung. Diese Fakten haben Ludger Engels und Ric Schachtebeck eindringlich verdeutlicht.
Starker Publikumsbeifall belohnte ihre symbiotische Zusammenarbeit, würdigte die künstlerische Ensembleleistung und die Leichtigkeit und Klarheit der Musik mit ihrer ins Visuelle übertragbaren Griffigkeit. ///
18.1. (19.30 Uhr ) + 27.1. (18 Uhr)
„Superflumina“
Bühne, Theater Aachen
theater-aachen.de
Karten gibt es im Kapuziner Karree
(Foto: Wil van Iersel)
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