Da steht er. Jakob Fabian. Die Hände in den Hosentaschen. Inmitten eines Lampenwaldes. Starr guckt er geradeaus. Geschäftige Kellner kreuzen seinen Weg. Rast- und Ruhelosigkeit in der Großstadt. Doch er steht einfach nur da. Und wofür steht er? Fabian ist ein promovierter Germanist, arbeitet erst als Werbetexter, wird dann aber arbeitslos. Im Berlin der 30er-Jahre verliert er sich mit seinem einzigen Freund Labude in einer enthemmten Stadt. Eine ruhe- und rastlose Großstadt inmitten einer Zeit, die aus den Fugen geraten ist. Eine Stadt voller Zwielichtigkeit, Gewalttätigkeit und Perversität. Eine Stadt mitten in der Wirtschaftskrise, kämpfend mit dem Aufkeimen des Nationalsozialismus. Und Fabian? Fabian kämpft nicht. Fabian hat es sich in seiner Untätigkeit heimelig gemacht. Lakonisch und skeptisch kommentierend steht er dem Geschehen abwartend gegenüber.
Wartend auf den Sieg der Ehrenhaften, dabei passiv wie ein Schuh. Sein Freund Labude ist da ganz anders, unentwegt glaubt er an die moralische Veränderbarkeit der Welt, will Fabian zu einer Haltung bewegen, fordert Widerstand von ihm ein. Teils verhält Fabian sich beinahe moralisch, hilft einem Bettler, einem Mädchen beim Kauf eines Aschenbechers, allzu dubiose Sexangebote lehnt er ab. Doch ist er moralisch? Jeder versucht, Fabian in eine andere Welt hineinzuziehen. Einzig seiner neuen Liebe Cornelia scheint dies zu gelingen. Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer, die aufstrebende Schauspielerin verlässt ihn. Seinen Job verliert er, das Geld wird knapp.
Labude bringt sich um, gebrochen von einem Scherz über seine Dissertation und Liebeskummer. Fabian entflieht dem Großstadtmoloch, zieht zurück zu seinen Eltern in die Provinz. Und stirbt bei dem Versuch, einem ertrinkenden Jungen das Leben zu retten. Obwohl er selbst nicht schwimmen kann. Fabian, der Moralist? Fabian, der Realist? Regisseur Christian von Treskow und Dramaturgin Inge Zeppenfeld lassen das Publikum hin- und hergerissen im Ungewissen. Mit der Inszenierung bezieht sich das Theater nicht auf die 1931 veröffentlichte, zensierte Version von Erich Kästners erstem Erwachsenenroman. Dieser trug noch den Titel „Fabian – Die Geschichte eines Moralisten“.
Sondern auf die erst 2013 veröffentlichte Originalfassung, in der die Frage nach der Moral viel offener gelassen wird. Mit insgesamt zwölf Darstellern, die mehr als 60 Rollen an über 60 Spielorten verkörpern, bringt von Treskow das dynamische Treiben der Großstadt auf die Bühne. Tabuloser Sex, perverse Gewalt, keimende Liebe. Nur die drei Hauptpersonen, Fabian, Labude und Cornelia, wechseln ihre Rollen nicht. Philipp Manuel Rothkopf spielt den Fabian mit herrlich stoischer Konsequenz. Mit Tim Knapper als Labude in gewohnt imponierender Schauspielleistung, liefern Rothkopf und Knapper ein herausragendes Zusammenspiel ab.
Gastschauspielerin Judith Florence Erhardt überzeugt als Cornelia, die Fabian fast hätte retten können aus dem Dschungel, der sich Großstadt nennt. Große Ensembleleistung von Anne Simmering, Torsten Borm, Thomas Hamm, Rainer Krause, Barbara Wurster, Karsten Meyer und Benedikt Voellmy in diesem temporeichen, von Treskow-typischen Körpertheater. Da werden zweiköpfige Purzelbäume gefordert, Handstände, Tanz- und Gesangeinlagen. Ensemble-Neuzugänge Petya Alabozova und Ognjen Koldzic feiern einen mehr als gelungenen Einstand. Milieu-Realismus bis ins Absurde und Befremdliche. Ein fulminanter Start der neuen Spielzeit auf der großen Bühne. \ cr
5.+11.11.
„Fabian oder Der Gang vor die Hunde“
verschiedene Uhrzeiten, Bühne, Theater Aachen
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