Sie heißen Anna, Manon, Mimì, Floria, Cio-Cio-San, Giorgetta, Angelica und Liu. Allesamt Frauen aus den insgesamt zwölf Opern Puccinis, die den Schlussapplaus nicht überleben. – Anlass genug, sich einmal mit dem Frauenbild ihres musikalischen Urhebers auseinander zu setzen.
Am Theater Aachen versucht dies augenblicklich Blanka Rádóczy, die von der Intendanz aus der Staatsoper Stuttgart nach Aachen berufene Regisseurin der Neuproduktion „La Bohème“. Sie findet, dass Mimì zu ihren Lebzeiten mit Musetta eine Freundin hätte haben sollen und möchte den Frauen gleich zu Beginn die Möglichkeit eröffnen, „aufeinander Einfluss zu nehmen“. Leider erfüllt sich die verwegene Hoffnung der Regisseurin, dass durch die Präsenz der Freundinnen der gesamte Opernabend in einem anderen Licht erscheinen möge, nicht. Denn auch die Verlegung der Ursprungshandlung in eine zukünftige Zeit, in der man keinen Winter mehr kennt, an einen imaginären Ort, verleiht dem Geschehen etwas Groteskes, mit welchem die Regie sich anschickt, einem in jeder Hinsicht ernst zu nehmenden Anliegen wie der globalen Erwärmung einen Bärendienst zu erweisen. Dass bei aller weihnachtlichen Feierlaune in der Künstler-WG der Winter ausgeblieben ist, wird weder durch die sommerliche Bekleidung, noch durch den Ersatz des szenetypischen Rotweins durch Mineralwasser hinreichend deutlich, sondern allenfalls durch einen Blick in das Programmheft. Wenn angesichts der Hitze dann noch wärmende Feuer angezündet, Muffe und Mäntel getragen werden und auch erklärtermaßen gebibbert wird, treffen Zeitgeist und Slapstick ungewollt aufeinander.
Auf der von Blanka Rádóczy und Andrea Simeon gestalteten Bühne leben und arbeiten die jungen Bohemiens in einem aus wenigen budgetschonenden Dachlatten zusammengezimmerten Verschlag, der sich in den einzelnen Akten dank Drehbühnentechnik teils von vorne, teils von hinten zeigt und der Fantasie der Zuschauenden reichlich Raum lässt.
Abseits des Szenischen kann man über die Aachener Produktion durchaus Erfreuliches berichten. Das Sinfonieorchester unter Christopher Ward ertönt in bezaubernd transparenter klanglicher Vielfalt, die Tempi angemessen und mit einer Dynamik, die die Gesangsstimmen nie überfordert. Puccinis berühmte Leit- und Erinnerungsmotive durchdringen die Oper vom ersten bis zum letzten Takt, mitunter kurzlebig, nur wenige Sekunden lang, möchte man sie festhalten wie einen flüchtigen Duft.
Die Solostimmen sind teilweise doppelt besetzt, was sich gerade angesichts steigender Infektionszahlen bei Grippe und Corona als vorteilhaft erweisen könnte. Natürlich durfte man auf die Neuzugänge des Aachener Ensembles gespannt sein, von denen der exzellente Bariton Jorge Ruvalcaba als Marcello in der vom Rezensenten besuchten „Deuxième“ in besonderem Maße aufhorchen ließ. Camille Schnoor ist eine ausdrucksstarke Mimì neben einem höhensicheren, bisweilen etwas zurückhaltenden Ángel Macías als Rodolfo. Vielversprechend auch das Rollendebüt der jungen Spanierin Laia Vallés als Musetta. Ronan Collet ist ein souveräner Schaunard. Jonathan Macker ein ebensolcher Colline mit einer hörenswerten Mantelarie. Pawel Lawreszuk ist in der Doppelrolle des Vermieters Benoît ebenso gewandt unterwegs wie als Musettas Sugardaddy Alcindoro. Versiert und spielfreudig agieren auch der Opernchor, der Extrachor sowie der Kinder- und Jugendchor, die sämtlich von Jori Klomp einstudiert wurden. Auch die besuchte zweite Aufführung der Aachener Bohème konnte einen großen Zuspruch des sehr gut besetzten Großen Hauses genießen. Vor allem auf den musikalischen Teil der Aufführung bezogen, ist dies sehr gut nachvollziehbar. \
3., 8., 13., 23., 25. + 31.12.
„La Bohème“
diverse Uhrzeiten, Großes Haus, Theater Aachen
www.theateraachen.de
(Doppelt) besetzt
Mimì: Camille Schnorr/Suzanne Jerosme
Musetta: Larisa Akbari/Laia Vallés
Marcello: Ronan Collett/Jorge Ruvalcaba
Schaunard: Jorge Ruvalcaba/Ronan Collett
Rodolfo: Ángel Macías
Colline: Jonathan Macker
Benoît/Alcindoro: Pawel Lawreszuk
Parpignol: Wonhong Kim
Sergeant: Stefan Hagendorn
Zöllner: Jorge Escobar
Händler: Hans Schaapkens
WEITEREMPFEHLEN