Auf ihrer Flucht werden sie oftmals Opfer von körperlicher und seelischer Gewalt. In Aachen lernen sie im gemeinsamen Hilfsangebot von Kaspar X und Kaspar Xchange, sich in einem Leben ohne ständige Gefahr zurechtzufinden.
Von Stefanie Erkeling
Seit Stunden köchelt der Eintopf schon vor sich hin. Der Duft von Reis, Lammfleisch und Gewürzen liegt schwer und köstlich in der Luft. Heute kocht der siebzehnjährige Yaya* aus Guinea für alle Bewohner des „Kernhauses“.
„Es ist im Grunde egal, ob der Koch aus Guinea, Eritrea, Afghanistan oder Syrien stammt – es gibt eigentlich immer Reis mit Fleisch“, kommentiert eine junge Frau, die etwas abseits steht und das Geschehen beobachtet, schmunzelnd und erntet dafür einen gespielt empörten Blick von dem jungen Koch.
Der Winter in anderen Ländern
Die anderen Bewohner trudeln nach und nach ein, am Ende sind es zehn Jungs im Alter zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren aus vier verschiedenen Ländern, die sich um den großen Küchentisch versammeln. Man frotzelt herum, tauscht sich über den nasskalten Aachener Winter aus und vergleicht die hiesige Wetterlage mit den Wintern in anderen Ländern.
Rasch wird deutlich: In Nordafrika, Spanien und Griechenland kennen sich fast alle gut aus. Dort haben sie mitunter viele Wochen oder Monate verbracht, es waren Stationen auf ihrem Weg nach Deutschland. Denn was auf den ersten Blick aussieht wie eine große, bunte, internationale WG, ist eine stationäre Betreuungseinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Die junge Frau, die mittlerweile mit den Jungs am Tisch sitzt und vorsichtig die zahlreichen Chilis an den Rand ihres Tellers schiebt, ist Isabel Jakobs, eine der Betreuerinnen, die im Dienste des Aachener Jugendhilfeträgers Kaspar Xchange die jungen Flüchtlinge auf ein Leben nach der Flucht vorbereiten.
Vielsagende Zahlen
Die Zahl der Flüchtlinge steigt seit Jahren stetig und erzielte im vergangenen Jahr einen traurigen Rekord: Über 56 Millionen Menschen waren 2014 auf der Flucht vor Hunger und Gewalt, meldete kürzlich das Uno-Hilfswerk UNHCR. Fast die Hälfte aller Flüchtlinge ist jünger als 18 Jahre.
Seit 2011 führt die Stadt Aachen eine Statistik über die sogenannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF), die im Aachener Gebiet aufgegriffen und dem Jugendamt überstellt werden. Die Zahlen sagen viel über den Zustand der Welt aus: Im Jahr 2011 waren es rund 70 Jugendliche, 2012 schon mehr als 100, 2013 nahezu 300. 2014 waren es mehr als 400 minderjährige Flüchtlinge, die sich in Obhut des Aachener Jugendamtes befanden.
Betreuung als Unterstützung des Jugendamtes
Das Jugendamt erkannte die Brisanz der Situation und suchte Unterstützung bei den freien Jugendhilfeträgern. Seither haben mehrere Aachener Träger ihr Angebot entsprechend ausgebaut.
Zwei von ihnen, Kaspar X und Kaspar Xchange mit Sitz in Eilendorf, bieten seit 2012 im Trägerverbund die Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge an.
Vorbereitung auf Selbständigkeit
Das Konzept sieht eine mehrstufige Betreuung vor, um die jugendlichen Flüchtlinge zunächst zu stabilisieren und dann auf ein selbständiges Leben vorzubereiten. Durch Synergieerffekte unterschiedlicher Betreuungskonzepte konnten Kaspar-X und Kaspar-Xchange dies gemeinsam zügig realisieren.
„Im ersten Schritt, dem Clearing, klären wir den Hilfebedarf, helfen bei wichtigen administrativen Dingen, etwa dabei, den ausländerrechtlichen Status zu klären und bauen ein Vertrauensverhältnis mit den Jugendlichen auf“, erläutert Wojciech Nowicki, der pädagogische Leiter von Kaspar Xchange.
Nach Beendigung des Clearings, das als Modul in einer sogenannten „Regelgruppe“ oder in speziellen Clearinggruppen angeboten wird, werden die Jugendlichen in einer vollstationären Wohngruppe wie dem „Kernhaus“ weiter betreut.
Wer bereits stabiler und selbstständiger ist, erhält die Möglichkeit, ins intensiv betreute Wohnen (IBW) zu wechseln.
Suche nach Gastfamilien
Das IBW ist eine Betreuungsform, in der die Jugendlichen in kleinen Wohngemeinschaften teilweise schon allein leben, jedoch noch durch sozialpädagogische Betreuer bei der Bewältigung des Alltags umfangreich und sehr flexibel unterstützt werden.
In einigen besonderen Einzelfällen ziehen die Jugendlichen zu Betreuern in eine sogenannte „sozialpädagogische Lebensgemeinschaft“, eine Betreuungsform, die Kaspar-X schon seit seiner Gründung 1993 als zentrale Idee einer individualpädagogischen Arbeit anbietet.
Daran anknüpfend sucht Kaspar-X Gastfamilien, die junge Flüchtlinge bei sich aufnehmen. Die Familien werden dafür speziell geschult und intensiv begleitet.
Enger Kontakt auch nach dem Auszug
Fawad aus Afghanistan hat von den Synergien profitiert. Er wohnte zunächst einige Monate lang in einem der Clearinghäuser von Kaspar Xchange, bevor er in eine intensiv betreute Wohngruppe von Kaspar X zog.
Seit er 18 Jahre alt ist, lebt er in einer eigenen Wohnung. Seinen Hauptschulabschluss absolvierte er so gut, dass er sich für die gymnasiale Oberstufe qualifizierte. Zu Kaspar X und Kaspar Xchange hält er auch knapp zwei Jahre nach seinem Auszug engen Kontakt.
„Ohne die Hilfe der Betreuer hätte ich es nur schwer geschafft, die schlimmen Dinge, die ich erlebt habe, hinter mir zu lassen“, sagt er. Er sei in Aachen sehr zufrieden mit seinem Leben, habe gute Freunde gefunden. „Ich wünsche mir, hier bleiben zu dürfen. Ich möchte studieren, arbeiten, frei sein. Das ist in meiner Heimat nicht möglich“, sagt er.
Umschalten von „Alarm“ auf „Sicherheit“
Mittlerweile haben Kaspar X und Kaspar Xchange ihre Infrastruktur soweit ausgebaut, dass beide eine umfassende und mehrstufige Betreuung anbieten können. „Die Betreuung der Jugendlichen erfordert medizinische, administrative – manchmal auch juristische – psychologische und sozialpädagogische Spezialisten. Da ist es wichtig, dass man gut vernetzt ist“, sagt Wojciech Nowicki.
„Darum arbeiten wir eng mit der Stadt Aachen, Dolmetschern, Ärzten, Psychologen und Einrichtungen der Klinischen Jugendhilfe wie 1-2-GO und den Beratungsstellen wie Cafe Zuflucht zusammen.“
Was genau ist die Aufgabe der Sozialpädagogik? „Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist es, den Jugendlichen dabei zu helfen, allmählich von „Alarm“ auf „Sicherheit“ umzuschalten und die Abläufe in einem sicheren Umfeld zu erlernen. Das klingt banal, ist aber für diese Jugendlichen, die ja mitunter monate- oder sogar jahrelang auf der Flucht waren, eine enorme Herausforderung“, sagt Andreas Sprack, der die Flüchtlingshilfe bei Kaspar X koordiniert.
Stefan Sauermann, Leiter von Kaspar-X, ergänzt: „Unser Ziel als individualpädagogische Jugendhilfeeinrichtung ist es seit jeher, Betreuungsangebote zu schaffen, die den individuellen Bedürfnissen und komplexen Problemlagen der Klienten flexibel gerecht werden. Diese Erfahrung versuchen wir auch hier einzubringen.“
Mehr als neunmonatige Flucht
Masoud hat sich noch immer nicht ganz daran gewöhnt, dass er jetzt einen eigenen Raum und ein eigenes Bett hat. Regelmäßig wacht er nachts auf, mit pochendem Herzen. Seine Flucht aus Syrien dauerte mehr als neun Monate.
Mit 15 hatte ihn seine Mutter fortgeschickt, weil es in dem vom Bürgerkrieg geschundenen Land keine Zukunft für ihn gab. „Bis zur Türkei lief es eigentlich ganz gut. Aber dann wollten die Schleuser plötzlich für die Mittelmeerüberfahrt noch einmal über 1000 Dollar haben“, erzählt er.
Ein halbes Jahr lang schuftete er für einen Hungerlohn, um das benötigte Geld für die Weiterreise zu verdienen. „Das war schlimm dort. Aber die Zeit in Griechenland war noch schlimmer. Die Flüchtlingscamps. Der Hafen in Patras. Gejagt und verprügelt haben sie uns. Polizisten, Hafenarbeiter, LKW-Fahrer“, sagt er leise und schüttelt traurig den Kopf.
Traum: Fußballer oder Ingenieur
Dann huscht ein kleines Lächeln über sein Gesicht, er richtet sich auf und sagt: „Aber ich habe es hierher geschafft. Darauf bin ich stolz.“ Seit ein paar Wochen lebt Masoud in einer Gruppe von Kaspar X und durchläuft das Clearing.
Nach seinem Traum befragt, lächelt Masoud kurz und strahlend. „Ich wäre gern ein berühmter Fußballer. Aber dazu bin ich wohl schon zu alt. Vielleicht kann ich studieren und Ingenieur werden. Ich habe gehört, dass ich dazu in Aachen genau richtig bin.“
Ein ganz normales Leben
Im Kernhaus ist das Abendessen mittlerweile beendet. Einige haben die Küche bereits verlassen, um sich dem Abendprogramm zu widmen.
Ein paar Jungs sitzen gemeinsam mit der Betreuerin Isabel Jakobs am Tisch und unterhalten sich. Thema: Mädchen. Einer der Jungs ist frisch verliebt.
Die anderen Jungs necken ihn, er errötet und wiegelt verschämt ab. In diesem Moment hat man das gute Gefühl, dass mit der richtigen Unterstützung auch für diese Jungs ein ganz normales Leben möglich ist.\
* Alle Namen von Jugendlichen wurden von der Redaktion geändert.
_____________
Kaspar-X sucht Gastfamilien, die jugendliche Flüchtlinge in ihren Haushalt aufnehmen.
Eine pädagogische Fachlichkeit und ein persönlicher Hintergrund mit Flucht und Migration sind hilfreich und erwünscht. Interessenten werden durch Kaspar-X intensiv vorbereitet und im Alltag begleitet.
Die verantwortungsvolle Tätigkeit wird mit Sachkosten und einem Erziehungshonorar vergütet. Interessenten können sich unter 0241-95 36 79 oder auf der Website von Kaspar X (siehe unten) informieren.
Ansprechpartner: Herr Sauermann / Frau Tesche-Bayer
Website von Kaspar X
Website von Kaspar Xchange
WEITEREMPFEHLEN