Von Christina Rinkens
Unter dem Namen Gravieranstalt entsteht im Rehmviertel ein Raum für Kunst und Musik. Dahinter stecken drei Typen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Michael M. Baier (49), Lutz Adorf (26) und Hisham Attya (26). Auch, wenn es noch nicht danach aussieht – ihre Gravieranstalt eröffnet Anfang März und lockt dann hoffentlich Querdenker, Kunstliebhaber und Kulturgänger in die Ottostraße.
Leerstand ist ein großes Thema in Aachen. Nicht nur in der Innenstadt, auch in den Vierteln stehen viele Ladenlokale leer. Eines von ihnen ist die ehemalige Gravieranstalt in der Ottostraße. Jahrzehntelang wurden hier tatsächlich Pokale und Klingelschilder graviert. Dann musste das Geschäft schließen. Gut für Michael M. Baier, Lutz Adorf und Hisham Attya. Drei Freunde und Nachbarn aus der benachbarten Tuchfabrik, die gemeinsam Platz für Kultur und Musik schaffen wollen.
„Für uns war klar, dass der Name erhalten werden muss. Schließlich gehört er ins Viertel,“ erzählt Michael M. Baier. Und so leuchten die blauen Neonletter über dem Ladenlokal wieder. Beziehungsweise immer noch. Knapp einen Monat ist es her, dass der Mietvertrag unterzeichnet wurde. Seitdem sind sie die Mieter der 105 Quadratmeter großen Räumlichkeit. Und einiges hat sich schon getan.
„Hier die Zwischenwand kommt noch weg, den Terrazzoboden dort haben wir beim Rausreißen des alten Belags gefunden“, erzählt Lutz Adorf bei einem Rundgang. Hinter dem kleineren Ladenlokal zur Straßenseite hin, versteckt sich ein von der Straße aus nicht sichtbarer, größerer Raum.
„Die Beleuchtung hier ist ideal für Kunst. Für uns war schon nach der ersten Besichtigung klar, dass wir beides nehmen: den Laden und die große Fläche“, so Baier. Denn zuerst war er nur an dem vorderen Lokal interessiert, wollte hier Kunst und Platten aus seiner umfangreichen Sammlung verkaufen. Doch im Gespräch mit seinen beiden Nachbarn und Freunden Adorf und Attya kam schnell eine gemeinsame Vision zustanden. Die Vision eines Raumes für Kultur, egal welcher Art. Eine Örtlichkeit, in der laut den Machern sehr viel passieren kann und soll. Auch im Gespräch zwischen alter Theke und geschenktem Sofa überbieten sich die Drei mit ihren Ideen.
Bisher ist geplant, etwa zehnmal im Jahr Ausstellungen über eine Dauer von etwa zwei Wochen zu veranstalten. An den freien Wochenenden wäre Platz für weiteres, zum Beispiel Konzerte, Comedy, Kulturkino, Lesungen, Märkte. Oder auch Yogastunden oder Karatekurse für Kinder, wie Hisham Attya sie anbieten möchte. „Die Gravieranstalt soll sehr wandelbar sein, in der Nacht wird bei Konzert und Party durchgetanzt, am nächsten Tag bei Yoga entspannt“, erzählt Attya. Und fügt sein Credo hinzu, das für die Herren zur Leitbotschaft der Umbauphase geworden ist: „It’s all about the Stimmung.“
Die Neuladenmieter sind mit viel Enthusiasmus bei der Sache, dabei hatten sie nicht viel Vorbereitungszeit. Innerhalb von wenigen Tagen haben sie sich zu der Anmietung entschieden. Und so geben sie auch offen zu: „Wir haben keinen Businessplan.“ Baier, Adorf und Attya sind sehr unterschiedliche Typen, und doch merkt man sofort, dass sie trotz – oder gerade wegen der Unterschiedlichkeit – eine besonders enge Freundschaft verbindet. Und nun ein Mietvertrag.
Gruppendynamik
Michael M. Baier ist Bauingenieur und geschäftsführender Gesellschafter eines Ingenieurbüros und bringt dadurch Erfahrungen in der Geschäftsführung mit, außerdem sammelt und macht er Kunst. Lutz Adorf ist gelernter Elektriker und Servicetechniker für Tankstellentechnik und kann viele handwerkliche Aufgaben übernehmen, zudem ist er als Fotograf unterwegs. Hisham Attya ist Architekt und erst letzten März aus Kanada hergezogen, neben seinem Beruf macht er Musik und malt.
Wir ergänzen uns perfekt, ob bei der Arbeit oder den Visionen. Natürlich diskutieren wir auch und sind nicht immer derselben Meinung“, so Baier. Zusammen hoffen sie, verschiedene Szenen und Generationen in die Gravieranstalt zu bringen. „Die beiden könnten meine Söhne sein“, so Baier, „aber dadurch ergänzen wir uns mit unseren Backgrounds nur noch viel besser.“
Natürlich ist auch die finanzielle Belastung zu dritt einfacher zu tragen. Bisher wird alles aus eigenen Mitteln finanziert. Ganz klar ist: „Wir wollen mit der Gravieranstalt kein Geld verdienen, wenn sich der Laden finanziell halbwegs trägt, ist das schon okay. Wir machen das letzten Endes aus Idealismus, natürlich soll dieses „Hobby“ aber am Ende auch nicht zur Belastung werden.“
Wer sich ein wenig in der Aachener (Sub-)kulturszene auskennt, der zieht nun eventuell Parallelen zu bestehenden Läden. Etwa der Raststätte in der Lothringerstraße. Doch nichts liegt den drei Männern ferner, als in Konkurrenz zu treten. „Wir wollen eher Unterstützer sein. Eine Bespielung der Gravieranstalt jedes Wochenende – wie es die Raststätte macht – können wir gar nicht leisten“, so Michael M. Baier. Sie sind sicher, ihr Spektrum zu finden. Selbstbewusst trete sie deshalb Zweiflern gegenüber: „Die Gravieranstalt wird ihren Platz in der Aachener Kulturszene finden. Und sollte das etwas länger dauern – auch kein Problem.“
„Künstlerrevier“
Nun ist die Ottostraße in den letzten Jahren nicht unbedingt durch ein pralles Kulturangebot aufgefallen. Die Randlage zwischen Adalbertsteinweg und Jülicher Straße und die unmittelbare Nähe zum Kaiserplatz hat auch ihre Tücken. Auch hier zeigen sie sich selbstbewusst: „Die Lage ist okay, vielleicht nicht top, aber das wollen wir auch gar nicht“, so Baier. „Vielleicht erscheint das dem ein oder anderen komisch, aber wir finden, dass ein Randbereich spannend sein kann.“ Es habe sich so ergeben, es passe – wieso also nicht? Attya fügt hinzu: „Wer interessiert ist, wird den Weg finden.“
Alle sehen lieber die positiven Seiten der Lage in der Ottostraße: das hippe Frankenberger Viertel ist fußläufig erreichbar, die Innenstadt sowieso. Das Rehmviertel ist mit seiner gelebten Multikulturalität vielfältig. Viele Künstler haben hier ihre Ateliers, gefestigte Galerien ihren Standort. Baier geht einen Schritt weiter und erinnert an die Vergangenheit des Viertels. In der Rudolfstraße, der Parallelstraße weiter östlich, hatte der NAK seinen ersten Sitz, das Theater K war hier jahrelang ansässig. Vielleicht kann also mit der Gravieranstalt dem Viertel zu altem Glanz verholfen werden, zurück zum „Künstlerrevier“.
Schon Anfang März soll die Gravieranstalt ihre Türen öffnen. „Ambitioniert, aber machbar“, sagen die Herren. „Auch wenn nachher auf einer halben Baustelle gefeiert wird, nichts muss perfekt sein.“ Vorher steht noch der ein oder andere Behördengang an. Das sei zwar teils nervenaufreibend, aber man müsse es eben so machen, wie es gemacht werden muss. Also ist der Blick in die Zukunft optimistisch? „Wenn wir uns nicht so kurzentschlossen entschieden hätten, hätten wir es vielleicht nicht gemacht. Vielleicht haben wir uns das alles ein bisschen leichter vorgestellt, aber es funktioniert.“ Und Mr. Stimmung, Hisham Attya, fügt hinzu: „We’re doing it for the fun.“ \
Förderbares Projekt?
Das wird sich zeigen. Um Fördermittel für 2018 zu beantragen, sind die Drei schlichtweg zu spät gewesen. Auch für die Zukunft gibt es eine konsequente Meinung: „Ganz klar ist, wir wollen uns nicht verbiegen. Wenn mit einer Förderung auch Konsequenzen einhergehen, die uns nicht passen, dann machen wir es nicht. Außerdem ist der Topf nicht groß, wenn wir es nicht brauchen, müssen wir das Geld auch nicht beantragen und damit anderen die Möglichkeit nehmen.“
Rehm-Viertel
Gerhard Rehm, Aachener Unternehmer, Spekulant und Stifter, erwarb Mitte der 1860er-Jahre das Gebiet zwischen Kaiserplatz, Adalbertsteinweg und Jülicher Straße. Hier sollte das für Aachen geplante Polytechnikum, die spätere RWTH Aachen, entstehen. Da die Entscheidung jedoch auf den Templergraben fiel, ließ Rehm auf dem Areal zahlreiche hochwertige Häuser im Stile der Gründerzeit als Arbeiterblocks für die Industriearbeiter der umliegenden Großfirmen errichten.
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