Von Richard Mariaux
Großes Theater, starkes Ensemble, viel Applaus. Zum Auftakt der Theatersaison hätte man der Adaption von „Die Irre von Chaillot“ am Theater Aachen nur mehr Publikum gewünscht als unter den aktuellen Covid-19-Bedingungen möglich.
Gerade mal knapp 100 Besucher waren im Großen Haus zugelassen. Und so wirbelte das 17 Personen umfassende Ensemble auf der Bühne über einem fast menschenleeren Innenraum, zumal der Orchestergraben mit seinem großen Durchmesser auch noch wie ein gähnendes schwarzes Loch wirkte. Aber das Hauptaugenmerk gilt im Theater ja der Bühne, und hier überzeugte dann zuallererst das schöne Bühnenbild von Elisabeth Pedross: eine Paris-Silhouette, auf der die Protagonisten auch tanzen, klettern und herumstolpern konnten.
Der Plot des 1943 entstandenen Stücks von Jean Giraudoux ist schnell erzählt: Eine mörderische Viererbande hegt den Plan, ganz Paris umzubuddeln und notfalls auch weg zu sprengen, da sie enorme Erdölquellen unter der Stadt vermuten.
Giraudoux schrieb „Die Irre von Chaillot“ als scharfe Kritik am Spekulantentum und an den Deutschen im besetzten Paris. Regisseurin Ewa Teilmans hat das Stück mit aktuellen Bezügen versehen: Der notorisch lügende und skrupellos Geschäfte machende „Präsident“ (Torsten Borm) als einer der vier Hauptschurken des Stücks trägt auch in den Dialogen unverkennbar Trump‘sche Züge. Der finanziell blanke „Baron“ (Hermann Killmeyer) zeigt hingegen noch die meisten Skrupel der Viererbande. Tommy Wiesner gibt („Aktien!“ kreischend) den manisch-durchgeknallten „Broker“ und Rainer Krause, als „Erdölratte“, der Vierte im Bunde, bringt das Projekt erst in Gang.
Die verzweifelte Anklage eines Kindes (unverkennbar Greta T.) verhallt hinter menschenverachtenden Kommentaren des mörderischen Quartetts. Doch der in einem Café ausgeheckte Plan weckt den Widerstand der die Szenerie belauschenden Aurélie (Stefanie Rösner), genannt die Irre von Chaillot. Diese alte Dame, quasi eine Art Schutzheilige des Armenviertels Chaillot, wird in ihrem Engagement von ihren drei Freundinnen Constance (Björn Jacobsen), Gabrielle (Alexander Wanat) und Joséphine (die Akkordeon spielende Larisa Akbari) vorbehaltlos unterstützt. Auch weitere Figuren wie ein Kellner, Dienst- und Blumenmädchen, der Kloakenreiniger Lumpklo und weitere Viertelbewohner helfen ihr nach Kräften.
Die Besetzung der Constance und Gabrielle mit Männern in Frauenrollen gibt der Inszenierung einen deutlich schrillen boulevardesken Drive, was dem Theaterstück von Jean Giraudoux ganz gut tut, da es von seinen Dialogen her sprachlich eher hölzern daherkommt. Schon in den 1920er Jahren schrieb Carl von Ossietzky über Giraudoux, er sei „ein Meister der feinsten epigrammatischen Spitze, was ihn nicht hindert, gelegentlich statt des Floretts den Stock zu führen“.
Aurélie will die böswilligen Spekulanten vom Erdboden verschwinden lassen. Da aber ein jeder Strafverfolgter das Recht auf eine Verteidigung hat, antizipiert dies quasi der dabei rhetorisch zu Höchstform auflaufende Lumpklo (Thomas Hamm), in dem er in die Rolle des angeklagten Präsidenten schlüpft. Doch er redet sich in seinem sarkastischen Plädoyer um Kopf und Kragen und wird folgerichtig von Joséphine als eingesetzter „Richterin“ für schuldig befunden. Auf ein fingiertes Geschäft hin lockt Aurélie dann die vier mit falschen Verträgen herumwedelnden Schurken in ihre Wohnung und schickt sie zum vermeintlichen Erdöl hinunter: Über eine Treppe geht es auf Nimmerwiedersehen in den düsteren Pariser Untergrund.
Auf Nimmerwiedersehen? Da hat sich die Regie dann doch noch was einfallen lassen, was an dieser Stelle nicht verraten werden soll und dem „Friede, Freude, Eierkuchen-Ende“ eine leicht düstere Wendung gibt. \
AM RANDE
Seit 2006 arbeitet Ewa Teilmans als freie Regisseurin und inszeniert regelmäßig Oper und Schauspiel am Theater Aachen. Neben „Die Irre von Chaillot“ gehören dazu unter anderem Bernsteins „Westside Story“, Verdis „La Traviata“ und Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“. \
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