Kunst gedeiht auf seismischem Boden. Ergo, sie wird mitunter ganz schön heftig durchgerüttelt. „Transformation in Echtzeit“ heißt es in dem fordernden, philosophischen, mitunter diffusen und wahrlich nicht trivialen Text der Performance „Die Nichtbesucherin. Etüden für ein Gebäude“. Es wird mit der Form-Sprache experimentiert, Disziplinen verschmelzen zu einem willkürlich sorgfältigen Chaos und alles bleibt dabei bestreitbar, angreifbar und jenseits des Normalen. Aber genau darum geht es, was empfinden wir, die Besucher, als in der Norm haftend, was ist uns ein Plaisirchen und was überschreitet unseren Willen zur Akzeptanz. Eine Etüde ist eine Fingerübung, ein Bravourstück, man könnte sagen, ein Angeberstück des Solisten. Etliche begleiten uns den Abend. Etüde über die Form, Etüde über das Sterben, Etüde über den Standpunkt, Etüde über die Bühne, über den Körper, über das Schauspiel. Eine ganze Menge Etüden für einen kurzen Abend. Ein Abend, der der Forschung dient, ein Abend, der den schwindenden Hunger auf das Theater wieder wecken soll. Dies gelingt leider nur mäßig. Fünf Akteure rasen mit uns durch Raum und Zeit, durch abertausende Worte, ihre überdimensionierten Bildschirm-Avatare im Gepäck. Als wären sie durch die Last der Bedeutungen leicht erschlagen, wirkt jede Geste einstudiert, kein Raum für Spontanität, jedes „Hej“ und jedes „Oh“ ist an dem vorgesehenen Platz. Jede Etüde hätte einen Abend füllen können, 90 Minuten Forschung im Namen der Wissenschaft (oder im Namen der Kunst), das ist einfach zu wenig Zeit. Natürlich ist es ein spannendes Unterfangen, Goethe, Charles und Ray Eames, Stanislawski, Bach und japanische Metabolisten – die für eine kontinuierliche Erneuerung standen - und etliche weitere Pioniere ihrer Kunst um eine Performance herum zu drapieren. „Eineinhalb Stunden Inanspruchnahme öffentlicher Zeit ist ein Versprechen“ – doch was genau wurde uns hier versprochen? Das bleibt hinter dem Schleier des Übermaßes verborgen. Auch das Theater kann sich einer gewissen „Globalisierung“ nicht entziehen, es muss sich den neuen Formen der Unterhaltung öffnen, es muss den Alltag hineinlassen. Oder? Es ist alles eine Frage des POV – Point of View. Theater kann alles, die Frage ist, sollte sie alles wollen? Was ist Theater, warum gehen wir ins Theater, was wollen wir vom Theater? Wollen wir den digitalisierten, individualisierten Alltag mitnehmen oder wollen wir uns dem kollektiven Genuss hingeben? Und so weiter und so weiter, diese Fragen stellt sich das Theater schon seit einiger Zeit, denn Theater verliert an Glaubwürdigkeit, verliert an Zauber und an Reiz. Sagt das Theater, und Statistiken belegen die schwindenden Zuschauerzahlen. Wie kommt aber nun die Nichtbesucherin in die Ränge? In ihrer ersten Regiearbeit stellt uns die Musikerin und Performerin Polina Lapkovskaja, alias Pollyester viele Fragen und bleibt uns genau so viele Antworten schuldig. Selbstverständlich erwartet die Besucherin nicht eine „42“ als Antwort auf alles, doch sie erwartet eine Idee, an der entlang sie ausufernd wandern kann, einen Gedanken, den sie verfolgen und aufblühen lassen kann. Sie will mit dem Gehörten und Gesehenen fliegen wie eine Möwe, nicht wie ein kaputter Regenschirm. Doch im Dickicht der Etüden kann sie sich leider nur verlaufen. „Ändere die Form, und es ist etwas anderes!“
Vielleicht muss die Inszenierungen etwas atmen, bevor sich ihr Bouquet offenbart. /Enikö Kümmel 20.12.
„Die Nichtbesucherin. Etüden für ein Gebäude“ 20 Uhr, Kammer, Theater Aachen www.theateraachen.de
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