Franz Biberkopf hätte sich kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt für seine Haftentlassung aussuchen können als 1927, zwei Jahre vor der großen Weltwirtschaftskrise. Vier Jahre hat er wegen Totschlags an seiner Freundin Ida bekommen, nun steht er mittellos und einsam in einem ihm fremd gewordenen Berlin. Als würde er ahnen, welche ungewisse Zukunft ihn erwartet, tritt er zögerlich und mit vor Angst verzerrtem Gesicht vor das Tor der Justizvollzugsanstalt Tegel. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, fährt ihm der Schreck in die Glieder, voller Panik schlägt er auf das Metall ein, springt, schreit, will wieder zurück in die friedliche Einsamkeit seiner Zelle. Dann erkennt er die Paradoxie: Seine Strafe ist nicht vorbei, sie beginnt in diesem Augenblick.
Gleich drei Ebenen verknüpft Regisseurin Ewa Teilmans in ihrer Bühnenfassung des weltberühmten Stoffes von Alfred Döblin. Neben Franz Biberkopf (gespielt von Torsten Borm) und den anderen Protagonisten treten noch der Heinrich-Schütz-Chor Aachen und die Theatergruppe der JVA Aachen, „Die Biberköpfe“, auf – letztere als Schwarz-Weiß-Videoinstallation. „Vor etwa einem Jahr habe ich in der JVA einen Aushang gemacht, wer Interesse hat, an Theater- und Filmarbeit und an der Teilnahme am Projekt des Theater Aachen“, erklärt die Regisseurin. „14 Männer wollten bei dem Projekt dabei sein.“ Die Inhaftierten konnten sich mit Döblins Helden identifizieren, viele von ihnen fühlten sich in ähnlicher Weise vom Leben gebeutelt. In wöchentlichen Proben hat Teilmans mit ihren Theater-Neulingen gearbeitet und über den Roman diskutiert. In der Inszenierung melden sich die Gefangenen über Videoaufnahmen zu Wort. Als Alter Egos des durch den Großstadtdschungel irrenden Franz Biberkopf erinnern sie ihn wie ein alptraumhaftes Déjà-Vu an seine Tat und gleichzeitig an den „Schutzraum“ Gefängnis. Mal sprechen sie in einem babylonischen Stimmengewirr durcheinander, dann wieder leiern sie monoton Knastregeln herunter oder repetieren vorangegangene Textpassagen.
Der Heinrich-Schütz-Chor Aachen verkörpert die Stadtbevölkerung Berlins, das Kollektiv, die „Masse Mensch“ (Teilmans), die mit Personen aus dem gesellschaftlichen Abseits nichts zu tun haben will. Vorzugsweise werden Volkslieder und Schlager aus dem Roman wie „Muss I denn zum Städele hinaus“ oder „Üb immer Treu und Redlichkeit“ in die Handlung eingewoben – ein hintergründiger Gegensatz zum Großstadtgewimmel mit all seinen Lastern und Versuchungen. Diesen kann der charakterschwache Franz Biberkopf trotz guter Vorsätze nicht widerstehen, besonders wenn sie ihn in Form der babylonischen Hure (Katja Zinsmeister) begegnen. Teilmans lässt dieses Allegorie für Macht, Gier und Exzess in Begleitung des Todes (Karsten Meyer) und Satans (Thomas Hamm) auftreten, als höllische Dreiergang, die Franz Biberkopf auf seinem freien Fall nach unten begleitet.
Wie Hiob, dem Gott in Absprache mit Satan alles nahm, um seinen Glauben zu testen, durchläuft auch Franz Biberkopf verschiedene Stadien des Niedergangs. Er treibt sich in Kneipen rum, sucht Prostituierte auf und sucht die Nähe zu dem zwielichtigen Freund Reinhold.
Durch die Drehbühne des Aachener Theaters kann der Schauplatz schnell verändert werden, die insgesamt sieben Schauspieler treten dynamisch auf und ab und schlüpfen dabei in ihre unterschiedlichen Rollen. Und während sich das Großstadtkarussell immer schneller dreht, gibt es für Franz Biberkopf nur eine Richtung: nach unten.
Text: Sebastian Dreher
Foto: Wil van Iersel
Premiere am 2. April
„Berlin Alexanderplatz“
19.30 Uhr, Bühne, Theater Aachen
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