Beim Betreten der Kammer des Theater Aachen hat das Stück eigentlich schon begonnen.
Flackerndes Licht, karge Einrichtung, drei Bänke. Mehr bietet das Bühnenbild nicht. Zelle oder Schwimmbadumkleide? Eine Klappe wird mit lautem Knall aufgeschlagen. Das noch nicht sitzende Publikum erschrickt. Eine Schüssel wird quietschend durch die Klappe geschoben. Entgegen nimmt sie Bradley Manning. Der erste Whitleblower des digitalen Zeitalters. Lange bevor Assange oder Snowden in die Geschichte der USA eingingen.
Auf der Bühne, eine Zelle. Eindeutig. Der eingesperrte Bradley Manning versucht sich darin zu beschäftigen. Er hüpft, macht sportliche Übungen. Plötzlich, laute Stimmen:
„Bradley Manning ist ein hitzköpfiger Einzelgänger.“ „Bradley Manning arbeitete vorher bei Starbucks.“ „Bradley Manning ist eine Tunte.“ „Bradley Manning hat ein Autoritätsproblem.“
Die Stimmen werden sichtbar. Die Zelle wird zum Klassenzimmer, Militärgelände, Schwulenclub. Bradley Manning wird von seinen Mitschülern während seiner Schulzeit in Wales gemobbt.
Bradley Manning wird von Militärkammeraden und -vorgesetzen während seiner Zeit bei der Armee, mit der er sich nur das Informatik-Studium finanzieren möchte, erniedrigt. Bradley Manning wird von nerdigen Freunden seines Liebhabers Taylor über die Möglichkeiten des Hackens aufgeklärt.
Einblicke, die sein Leben verändern
Szenenwechsel: Bradley Manning, IT-Spezialist bei der US-Army, bekommt mit, wie Drohnenpiloten des US-amerikanischen Militärs ihre Abschussaktivitäten kommentieren: „Kinder, Zivilisten auf der Straße – deren Schuld, wenn sie sich da aufhalten. Bam!“
Bradley Manning beschließt, die Informationen, die ihm so leicht zugänglich sind, öffentlich zu machen: „Ich hätte es einfach nicht sehen dürfen. Man muss doch irgendwas tun.“
Laut brüllen die Stimmen, laut dröhnt die Musik. Laut prasselt alles auf Bradley Manning ein. Und auf die Zuschauer. Das beschert nicht nur Kopfschmerzen, sondern einen umfassenden Einblick in die Gefühlswelt des Menschen Bradley Manning.
Der Vorgang des Datenklaus selber ist ganz leise, ebenso der Schluss-Monolog von Häftling 4333453: „Ich habe keine Wahl.“ Aus einem Menschen ist eine Nummer geworden.
Der damals 25-jährige Whistleblower Bradley Manning wurde im Sommer 2013 zu 35 Jahren Haft verurteilt. Er hatte WikiLeaks das Video gegeben, das US-Kampfhubschrauber-Scharfschützen beim Mord an Zivilisten zeigt.
Die Scharfschützen sind frei. Einen Tag nach der Urteilsverkündung gab Bradley Manning bekannt, dass er sich seit Jugendtagen als Frau fühle und fortan Chelsea genannt werden wolle. \ cr
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