Von Anja Nolte
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Kafkas Beginn seiner Erzählung „Die Verwandlung“ gehört wohl zu den berühmtesten Sätzen der Weltliteratur. Sylvia Sobottka hat das Stück jetzt auf die Kammerbühne gebracht – und das Publikum verfolgt gebannt, wie Gregor unaufhaltsam auf sein tragisches Ende zutreibt.
Es stellt sich gar nicht erst die Frage nach dem Warum. Gregor Samsa, Handlungsreisender und der einstige alleinige Familienernährer, hat sich verwandelt. Er schafft es nicht, aus dem Bett aufzustehen. Die Familie wundert sie sich: Gregor hat in seinen fünf Jahren als Tuchhändler noch nie den Fünf-Uhr-Zug verpasst! Prompt steht auch der Prokurist auf der Matte und verlangt nach ihm. Es folgen Hysterie und Schock beim Anblick Gregors, dann Mitleid, schließlich zieht soziale Kälte in die Familie ein. Wut, Trotz und Ekel bestimmen den Alltag, ihre Abneigung wird zu echter Aggression.
Das familiäre Glück lastet schwer auf Gregor, grandios verkörpert von Ognjen Koldzic: In der ersten Szene liegen der Vater (Philipp Manuel Rothkopf), die Mutter (Luana Bellinghausen) und die Schwester (Petya Alabozova) – übereinandergestapelt – auf dem Sohn und Bruder, der sich tagtäglich im ungeliebten Job für sie abmüht, und bemerken noch nichts von seinem neuen Zustand. Zunächst also ein ganz normaler, idyllischer Morgen: Mutter und Vater stehen auf, frühstücken und lesen die Zeitung, Schwester Grete trinkt ihren Kaffee und summt „I’m only sleeping“ von den Beatles.
Doch dann schlüpft der Vater in die Rolle des Erzählers, wortgetreu gibt er den bekannten Kafka-Text wieder. So beginnt auch das Kammerstück mit dem eindringlichen Satz: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“
Obwohl Kafka den Käfer genau beschreibt – er hat einen panzerartigen Rücken, einen gewölbten, braunen Bauch und viele dünne Beine – schrieb er 1916 anlässlich der Erstveröffentlichung seiner Erzählung an den Verlag: „Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden.“ Damit ist die wohl spannendste Frage des Abends: Wie wird die Verwandlung auf der Bühne dargestellt? Sobottka hat dies wunderbar gelöst: Koldzic steckt nicht in einem Käferkostüm, sondern ist fest mit der Matratze seines Bettes verschnürt. Gegen alle Widerstände versucht er anzukämpfen, um sich endlich aufzurichten, und, als ihm dies gelingt, krabbelt er auf allen Vieren – mit der Matratze auf dem Rücken – über die Bühne.
Die Ausgrenzung und Misshandlung Gregors ist grausam, trotzdem – oder gerade deswegen – lässt die Inszenierung von Sobottka eine Portion Leichtigkeit zu: die ersten Fütterungsversuche durch die Schwester, die Neuausrichtung der drei Familienmitglieder, wer jetzt für den Unterhalt sorgen soll („Ich habe seit fünf Jahren nicht gearbeitet, soll ich etwa das Geld verdienen?“, „Ich habe Asthma!“, „Ich bin erst 17 Jahre alt!“), und nicht zuletzt der groteske Auftritt der drei Zimmerherren, ebenfalls von dem Dreiergespann gespielt. Auch die Beatles-Einlagen lockern das Stück auf, das mehr ist als nur Schullektüre. Insgesamt ein kurzweiliger Abend – mit einem für Kafka-Stoff typischem Schwanken zwischen Gelächter und Grauen. \
5., 14., 18. + 21.12.
„Die Verwandlung“
20 Uhr, Kammer, Theater Aachen
Am Rande
Ein besonderes Bühnenbild (Manuel Gerst): Verschiedenfarbige Tücherbahnen – in Anspielung auf die Tätigkeit Gregor Samsas als Tuchhändler – stellen mal die Wege zu Gregors Zimmer dar, mal verdecken sie die Gesichter der Eltern und der Schwester, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf Details zu lenken. Zum Schluss wird Gregor lieblos, geradezu in freudiger Erregung darüber, dass man ihn losgeworden ist, in das schwarze Tuch gepackt. \
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