Die Uhr tickt. Unaufhaltsam. Man sieht einen kargen Raum mit einem schnörkellosen Holztisch, daneben zwei Stühle, eine Nasszelle ohne Armaturen, ein vergitterter Fensterspalt, einziger Ausgang eine Metalltüre. Und an der Wand eine Uhr. Es ist halb elf. Die Uhr tickt weiter. Eine Frau sitzt auf einem der Stühle. Rötliches Haar rahmt ordentlich ihr Gesicht. Sie trägt eine grüne Seidenbluse, elegante Hosen und Pumps. „Hallo?“, ruft sie und läuft zur Türe: „Ist hier jemand?“ Sie klopft gegen die Türe, versucht mit Hilfe eines Stuhls an die Fenster zu gelangen, kehrt wieder zurück zum Tisch. Das Ticken der Uhr endet. Die Metalltüre wird aufgeschwungen und ein Mann tritt ein. Enge Jeans, derbe Boots. „Setzen“, brüllt er. Sie, eingeschüchtert, überrascht, nimmt Platz und langsam dämmert es ihr und dem Publikum. Das ist eine Verhörsituation. Er, der Bulle, sie, die Festgesetzte. Er fixiert sie mit Blicken und stellt Fragen, die sie in die Enge treiben. Sie wirkt gebildet, verschüchtert, unschuldig. Doch sie hat möglicherweise etwas zu verbergen. Auf ihrem Rechner wurde Beweismittel gesichert. Sie sagt, es sei kein Bekennerschreiben, sondern ein Gedankenspiel für ihre Studenten. Um 24 Uhr soll an Heilig Abend angeblich eine Bombe hochgehen. Und bis dahin sind es nur noch 1,5 Stunden. Und die Zeit läuft. Er wird immer ungeduldiger, sie kommt ins Schwitzen.
2017 wurde „Heilig Abend“ uraufgeführt und zieht sich seitdem mit Erfolg über die deutschen Bühnen und erinnert mit seiner Aktualität und Brisanz leicht an Schirachs „Terror“. Wie auch dort spielt Kehlmann durch die scharfkantige Figurenzeichnung und die wechselnde Beziehungsdynamik geschickt mit den Erwartungen und Ängsten der Zuschauer. Es werden Fragen zum Weiterdenken gestellt, die nicht einfach und nicht eindeutig zu beantworten sind. Was betrifft nur mich, was alle anderen. Was ist privat und ab wann dringt man ein in die Privatsphäre seines Gegenübers.
All diesen Fragen stellt sich auch Anja Junski in ihrer Inszenierung. Und so spannend Wort-, Gedanken- und Zeitspiel auch sind, so bleibt der Zuschauer doch zumeist nur stiller Beobachter. Ohne Zweifel meistern die beiden Darsteller Franziska Arndt und Tobias Goedecke die 90 Vollgasminuten, die dank Uhr im Hintergrund in Echtzeit ablaufen, mit schnellem Schlagabtausch, peinlich berührtem Innehalten und präzisem Zusammenspiel. \ Kira Wirtz
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