„Dosenfleisch“ zeigt eine dystopische Parallelwelt auf einer fast verlassenen Autobahnraststätte. Der österreichische Theaterautor Ferdinand Schmalz – ein Pseudonym – ist seit der Uraufführung des Stücks bei den Berliner Theatertagen in Sachen Erfolg sozusagen auf der Überholspur unterwegs. Vier überzeugende Charaktere tragen das skurrile Stück mit Bravour durch anderthalb Stunden Theatergenuss. Die Raststättenbetreiberin Beate (Maresa Lühle) umgibt ein düsteres Familiengeheimnis, und eine hier gestrandete junge, etwas divenhafte Schauspielerin namens Jayne (Petya Alabozova) ist ein mit Beinprothese und Halskrause versehenes, fast cyborgartiges Unfallopfer einer Karambolage auf der nebenan verlaufenden Autobahn. Torsten Borm spielt einen Fernfahrer als bissig monologisierenden Kommentator, hier ebenfalls festgesetzt aufgrund der gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeiten. Der beständig unter Strom agierende Versicherungsangestellte Rolf (Thomas Hamm) prüft als Crash-Fetischist akribisch, warum es auf dieser Teilstrecke immer wieder zu mysteriösen Unfällen mit Todesfolge oder großer Versehrtheit kommt. Das Bühnenbild (Kathrin Krumbein) entspricht dem dunklen Todesmoment, den alle Figuren in sich tragen: Der Raststätteneingang mit seinen Plastiklamellen versprüht Kühlkammer-Charme, ein Pissoir, ein Tisch, an dem der Fernfahrer stumpf vor sich dahinvegetiert - um dann im nächsten Moment aufbrausend eine Ode auf den Rausch der Geschwindigkeit zu halten. Oder über den bei Müdigkeit hypnotisierenden Mittelstreifen und ein von einem verunfallten LKW gefallenes, durch Reifen aufgewirbeltes Dosenfleisch als Menetekel („Die Ladung hat sich selbst entladen“) zu dozieren. Ferdinand Schmalz gelingt es in seinem Stück wunderbar, eine dichte Gemengelage aus popkulturellen Anspielungen (Norman Bates Hotel, Tarantino-Filme), die Simulations- und Geschwindigkeitstheorien des Philosophen Paul Virilios und reichlich Sprachwitz mit Kalauern und Floskeln zu entfalten: im Unfall, „da schürft die Wirklichkeit sich auf“, der Versicherungsbearbeiter wird in seiner Recherche „ausgebremst“, weil „wenn der uns in die Spur gerät …“. Schmalz empfiehlt sich hier als frischer Epigone der österreichischen Elfriede Jelinek-Schule. Alle vier Schauspieler überzeugen. Eine Entdeckung ist Maresa Lühle, die in ihrer Gastrolle den Wunsch nach längerfristigem Engagement an diesem Theater entstehen lässt. / Richard Mariaux 4., 16.+22.4.2023 „dosenfleisch“ 20 Uhr, Kammer, Theater Aachen
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