Das kollektive Gedächtnis ist ein kapriziöses Wesen. Es zeigt uns eine Art Best of the Best der Helden, die uns im Dunst des Vergessens eine Orientierung geben, die unsere Annalen wahlweise mit Glanz und Gloria überziehen oder als ewiges Mahnmal über unseren Köpfen schweben. Wo sind aber all die Menschen, deren Namen es nicht in die Top Ten geschafft haben, deren Taten zwar unsichtbare, aber doch unauslöschliche Spuren hinterlassen haben?
Oppenhoff, Mohren und Cohn sind drei dieser Menschen. Und Inge und Willi und Bruno. Und viele weitere Inges und Willis und Brunos. Ihre Lebenswege werden zu einer fiktiven Chronik Aachener NS-Vergangenheit gesponnen und mit einer berührenden Sachlichkeit erzählt, die durch Mark und Bein geht. Der journalistisch nüchterne Ton, den Regisseur Florian Fischer für seine Inszenierung gewählt hat, beraubt die Geschichte nicht ihres Gewichtes, ganz im Gegenteil. Diese bewusste Zurückhaltung wirkt wie ein Echtheitszertifikat. Man sieht keine Charaktere, sondern Menschen. Haltung und Widerstand werden lebendig, als könnte man nach ihnen greifen, als könnte man sie bewahren. Die kongeniale Musik von Malcolm Kemp, der sein feines Gespür für den richtigen Ton immer wieder unter Beweis stellt, ist nicht nur das Tüpfelchen auf dem „i“, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Inszenierung. Hier kann man nichts nachträllern, keine Melodien, die für Tage und Wochen in den Gehörgängen geistern. Was man hört, ist ein hochkomplexer Soundtrack, dessen Raffinesse aus dem richtigen Mischverhältnis von Subtilität und Feingefühl auf der einen und Leidenschaft und Kraft auf der anderen Seite besteht. Auch wenn das eine Hit-freie Zone ist, entbehrt die Musik nicht einer großen Portion Coolness, die er mit der Gesamtästhetik des Stückes teilt. Die gesungenen Passagen – das Ensemble in Höchstform – wirken nicht, wie so oft, einem Weichspüler gleich, sondern bringen vielmehr eine glühend leidenschaftliche Seite ins Spiel.
Ein großes Faszinosum, wie die Zurückhaltung der Inszenierung auf das Bühnenbild prallt und scheinbar, wie durch ein Prisma in tausend Stücke gesprengt wird. Nicht, dass die Bühne eine Opulenz aufweisen würde, zart geraffte und bunt bedruckte Vorhänge teilen die Szenerie in Dioramen auf, schaffen Räume, verbergen und geben frei. Sie erinnern an Omas Wohnzimmer, bewegen sich in einer Choreografie der Leichtigkeit, ein zartes Ballett, als würden sie versuchen, die unermessliche Last von der Geschichte zu nehmen. Sie kommen und gehen wie die aufkeimende und verblassende Hoffnung. Ein schönes Bild, das Generalintendantin Elena Tzavara bei ihrer Rede auf der Premierenfeier entstehen ließ.
Empathie – vielleicht das beste Wort, um die Haltung, die das ganze Stück durchwebt, zu beschreiben. Und ein treffender Ausdruck für das Spiel der Akteure. Etwas Chorales, Opernhaftes liegt in der Luft. Monologe wechseln sich mit Duetten ab, die Einsamkeit des Individuums begegnet dem Kollektiv. Eine dezente Schönheit der Melancholie, der Trauer und vielleicht auch der Wut legt sich über das Spiel, als würden die Darsteller nicht wagen, die Würde und Ruhe der Helden zu stören. Dieses fein dosierte und doch kraftvolle Spiel bewahrt das Stück davor, pathetisch zu werden. Eine gewisse formale Strenge, eine minimalistische Nuance durchziehen die Inszenierung und lassen viel Raum für persönliche Gefühle. Die Aufbereitung einer der dunkelsten Stunde deutscher Geschichte wurde bereits in viele Formen der Kunst gezwängt. Das Musiktheaterstück „Oppenhoff. Mohren. Cohn“ emanzipiert sich vom Althergebrachten, bricht mit herkömmlichen Sichtweisen, ohne an Dringlichkeit zu verlieren. Sehenswert. \ Enikö Kümmel
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