Stellen wir uns vor, das Wirtschaftswunder fand nicht in Deutschland, sondern in der Türkei statt. Deutsche suchten Arbeit in der aufstrebenden Industrienation Türkei, während ihre Familien in der Heimat auf sie warteten. Mit diesem erzählerischen Kniff beleuchtet die Inszenierung „Istanbul“ von Regisseur Christoph Biermeier im Grenzlandtheater die Erfahrungen der Arbeitsmigration und schafft so einen Perspektivwechsel, der gleichzeitig unterhaltsam und tief berührend ist.
Die Geschichte von Klaus Gruber, der als Gastarbeiter aus Aachen-Burtscheid in die türkische Metropole Istanbul zieht, wird eindringlich von Dirk Weiler gespielt. Seine innere Zerrissenheit zwischen Heimweh und dem Versuch, sich in der fremden Kultur zurechtzufinden, steigert sich immer weiter, lässt den Zuschauer mitfühlen. Seine Ehefrau Luise (Anne Bontemps) berührt mit intensiven Gesangspassagen und großem Slapstick-Talent, zum Beispiel beim Abenteuer Dolmus-Fahren, während der charismatische Fehmi Göklü als Ismet den Humor und die Leichtigkeit ins Stück bringt.
Durch die ironische Spiegelung werden die klassischen Migrationserfahrungen unmittelbar und anschaulich, der Sprachverlust („Och, härm!“), die kulturelle Heimatverbundenheit (Sie schickt ihm den Sportteil mit den Spielberichten der Alemannia Aachen), die Sprachprobleme („Türkisch: Suffix, Affix, Präfix, verstehst du nix …“) und der Traum vom „Häuschen in Burtscheid“. Die Musik von Sezen Aksu – poetisch, leidenschaftlich, universell – wird nicht nur meisterhaft interpretiert, sondern auch geschickt in die Handlung integriert. Die Livemusiker (Benjamin Stein, Nurullah Turgut, Uwe Böttcher, Mehmet Bagcı) machen fabelhafte Musik und werden ebenfalls Teil der Handlung, spielen mal den Kaffee- (Entschuldigung, Cay-Verkäufer) oder den Bus-Mitfahrer samt Hühnchen. Traditionelle türkische Instrumente verleihen dem Abend eine besondere Atmosphäre. Die Zuschauer sind eingeladen, mitzusingen, was das Premierenpublikum gerne und besonders beim Tarkan-Hit „Sımarık“ tat.
Das Stück überzeugt nicht nur durch musikalische Schönheit, sondern auch durch seine gesellschaftliche Relevanz, ohne den Zeigefinger zu erheben. Es erzählt von Verlust, Integration und der Suche nach Zugehörigkeit. Die gezielt eingesetzten Klischees sorgen dafür, an der richtigen Stelle die Stimmung trotz der Schwere des Themas hochzuhalten. Die Bühne von Claudia Rüll Calame-Rosset setzt dabei auf Minimalismus: Kartons und wenige Requisiten genügen, um die Geschichte zu erzählen.
Dennoch berührt es. Und der ein oder andere Zuschauer verdrückt an der ein oder anderen Stelle ein Tränchen. Sei es, weil er begreift, wie schwer verlorene Träume zu akzeptieren sind, seine Akzeptanz ein viel höhere Toleranz braucht und dass Toleranz nicht mit wahrer (Gast-)Freundschaft zu verwechseln ist.
Und Gastfreundschaft bekommt in dieser Inszenierung noch einen wichtigeren Stellenwert: Das Grenzlandtheater öffnet nicht nur seine Türen für ein gesellschaftlich aktuelles und wichtiges Thema, sondern auch für ein buntes Publikum, das genauso –mit Mitsingen, Mittanzen, Mitlachen und Mitweinen – in die Theater gehört.\ Kira Wirtz
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