Was bedeutet Erinnern eigentlich für einen Menschen? Ist es bloß das Wiedererleben von bereits vergangenen Ereignissen oder hat es eine tiefere Bedeutung? Vielleicht hat die Erinnerung auch Auswirkungen auf unsere eigene Identität. Und wenn sie uns dann genommen wird, fehlt ein Teil unseres Selbst.
Das passiert Michael (Patrick Kramer), als er wegen eines Blutgerinnsels ins Koma fällt. Er vergisst die letzten 4.000 Tage. Die letzten 4.000 Tage sind die, die er mit seinem Lebenspartner Paul (Thomas Ziesch) verbracht hat. Als er aufwacht, kann er sich nicht mehr an Paul erinnern, sondern hält ihn für einen seiner Pfleger. Dafür ist seine Mutter für ihn der Fels in der Brandung – obwohl sie die letzten Jahre nicht immer gut miteinander ausgekommen waren. Schuld daran war meistens Paul und das hat Michaels Mutter nicht vergessen. Ohne Paul wäre Michaels Leben wahrscheinlich besser und leichter verlaufen, findet sie. Gut, dass Michael sich nicht an seinen Partner erinnern kann. Die Sorge um Michaels Zustand vereint die beiden konkurrierenden Parteien zwar, aber eigentlich hätte jeder der Beiden ihn doch gerne ganz für sich. Es beginnt ein Wettstreit um Michaels verlorene 4.000 Tage und seine Zukunft, in der ein Neubeginn mit oder ohne Paul steht.
Die Sache mit der Erinnerung und dem Neuanfang ist schwierig. So fragt man sich in den Zuschauerreihen unwillkürlich, was würde ich tun, wenn ich die Möglichkeit hätte, alles nochmal zu machen. Jede Entscheidung, die man jetzt anders treffen würde, kann trotzdem noch fälschlicher sein, als die, die man schon einmal getroffen hatte. Eigentlich eine schöne Ausgangslage, die sich Peter Quilter für sein Stück des eher leichten Genres überlegt hat – denn diesem Kampf ist Michael ausgesetzt.
Doch so richtig scheint es nicht bis über den Bühnenrand zu schwappen. Stattdessen leidet Partner Paul viel intensiver unter der Last, seinen Geliebten nun wieder für sich gewinnen zu müssen. Manchmal vielleicht auch zu sehr. Michael scheint eher eine Wand aus Emotionslosigkeit und Ahnungslosigkeit aufgebaut zu haben, an der alles abprallt. Schließlich will man doch wissen, mit wem man die letzten fast elf Jahre verbracht hat. Anscheinend nicht so wirklich, denn Paul wird ständig in Frage gestellt. Das ist nicht schlecht, er hat auch nicht die weißeste Weste, aber die eigene Mutter hinterfragt der Betroffene nie.
Michaels Mutter Carol wird von Maria Ammann ungeheuerlich dargestellt. Ungeheuerlich passend. Denn diese Frau ist ein Ungeheuer, die ihren Charme an Michael weitergegeben hat, so ihre Worte. Muss sie auch, denn bei ihr ist davon kein Fünkchen mehr zu finden. Der Kampf zwischen Carol und Paul ist die amüsante Facette an der doch recht kurzen Vorstellung, die keinesfalls zu kurz oder gar zu lang ist. Abfällige Blicke und abfällige Bemerkungen über Blumen, Musik und Kunst gehören bei den beiden Giftzwergen einfach dazu – komisch nur, dass Michael von diesen Spannungen irgendwie unbeeindruckt bleibt.
Das minimalistische Bühnenbild bietet Michael allerdings einen gehörigen Vorteil, seine künstlerisch, er ist Maler, doch eher, sagen wir, eingeschränkten Fähigkeiten zu zeigen. Wie, bleibt ein Geheimnis. Aber es war erfrischend neu.
Das Ende kommt schnell und eher ohne große Überraschung. Es steht eine Entscheidung aus: Paul oder Carol. Wie sich Michael entscheidet, sei hier nicht verraten, aber so viel sei gesagt: Richtig nachvollziehen kann man es nicht. Man wünscht es sich, ja, das auf jeden Fall. Was nach all dem Hin und Her aber Auslöser ist, dass sich Michael so entscheidet, ist nicht erkennbar. Und auf dem Weg nach Hause beschäftigt mich eher die Frage: Was würde ich tun …? \ ar
diverse Termine
„4.000 Tage“
20 Uhr, Grenzlandtheater
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