Hilfe oder Habgier. Lieb oder gerissen. Dauer-Drogi oder Ausnahmeerscheinung. Überschusshandlung oder perfide geplant? Das Leben von Nele Siebold (Bettina Scheuritzel) steht Kopf. Von jetzt auf gleich ist in ihrem Leben nichts mehr wie es war. Ihr Sohn, offenbar auf Drogen – sie kann es selbst kaum glauben – wurde vom Lokalpolitiker Heiko Braubach (Karl Walter Sprungala) angefahren.
Auf einem Sessel wartet sie in ihrer kargen Wohnung (cleanes Bühnenbild von Dorien Thomsen), der Saugroboter dreht noch einsame Runden, auf den Politiker, der sich bei ihr angekündigt hat. Was kann er bloß wollen. Nervös läuft sie zum Türöffner und nun stehen sich die aufgelöste Mutter in Kapuzenpulli und Cargohose und der anzugtragende, gestriegelte Politiker gegenüber. Er hat keine Schuld am Unfall, das ist Fakt. Sie hat auch keine, muss aber die Konsequenzen tragen.
Er will helfen, sie kann es kaum glauben. Der selbstsichere, redegewandte Lokalmatador bewegt sich zielsicher über die Bühne, bietet weiter Hilfe an, trinkt ohne mit der Wimper zu zucken den Kaffee aus einer Tasse mit dem Gesicht des Verunglückten drauf und hält sich unangreifbar gütig. Man scheint sich geeinigt zu haben. Hilfe ist das, was Nele will. Dumm nur, dass sie sich Unterstützung in Form ihres Neffen Jerome bestellt hat. Vermutlich, weil sie mit keinem so leichten Ausgang des Gesprächs rechnete. Auf der anderen Seite, weil der Neffe sich seit dem Unfall vermeintlich selbstlos um sie kümmerte. „Er ist so ein guter Junge, hätte so viel mehr aus seinem Leben machen können“, preist sie ihn an. Fakt ist: Der gute Junge hat eben doch nicht so viel aus seinem Leben gemacht und fährt jetzt Pakete aus, hat wenig Manieren – kommt zu spät, isst erst mal Pizza – und hat ganz eigene Absichten Heiko gegenüber. Julian Koechlin füllt ab Minute eins seines Auftritts die Bühne der Kammer. Wirkten schon Scheuritzel und Sprungala wie wahr gewordene Widersprüche, die trotz der biederen Umstände zu Verwirrung und Lachern führten, sprengt Koechlin als prolliger, kaugummikauender und jogginganzugtragender Rüpel die Situation immer wieder aufs Neue.
Ein bisschen zu laut, ein bisschen zu respektlos, ein bisschen vordergründig dümmlich, aber mit einer großen Aggressivität geht er auf den anfangs noch aalglatten Heiko los. Will Selfies machen, filmt heimlich, sieht eine große Verschwörung hinter der Politik im Ganzen und sich als Rächer aller existenziell Bedrohten. Pech für Heiko, der nach und nach sein Saubermann-Image ablegen muss. Er will sich dennoch nicht auf Jeromes Niveau herablassen. Für ihn ist dieser „moralisch auf dem Niveau von Erpressern, die Babynahrung vergiften.“ Doch er kommt nicht raus aus seinen Fängen, Diskussion unmöglich. Ärmel werden hochgekrempelt, Messer gewetzt. Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Wer ist schuldig, wer nicht? Geht es hier überhaupt noch um unterschiedliche politische Positionen? Lässt sich bei konträren Gedanken überhaupt eine Einigung finden?
Anderthalb Stunden fliegen nicht nur wörtliche Fetzen, das Publikum ist vollkommen eingenommen. Man kann nicht wegsehen, auch wenn es unangenehm wird. Das liegt vor allem an der schauspielerisch tollen Leistung. Das Publikum dankt es mit Standing-Ovations. \ kw
5., 24.+25.1.
„Furor“
20 Uhr, Kammer, Theater Aachen
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