Von Kira Wirtz
Am Theater Aachen beginnt die Spielzeit im großen Haus mit Ludger Engels Inszenierung von Wedekinds „Lulu“. Vorab traf der Klenkes die drei Lulu-Darsteller*innen Petya Alabozova, Marion Bordat,Tommy Wiesner zum Gespräch. Über Opfer, Täter, Backpfeifen und Reaktionsmaschinen.
Es sind drei allein schon optisch ganz unterschiedliche Personen. Der energiegeladene, große Tommy Wiesner, die kleine, reflektierend wirkende Petya Alabozova und die neuste in der Runde Marion Bordat, die äußerlich eine gewisse Strenge ausstrahlt. Und doch verkörpern sie eine Rolle, nämlich die, der Lulu. Schnell wird klar: Die drei ergänzen sich, im Gespräch wie auf der Bühne. Haben ihre eigene Spielart und Herangehensweise. Und das macht für die Inszenierung durchaus Sinn.
Lulu – das kann laut Regisseur Ludger Engels jeder und jede sein. Eine Projektionsfigur. Und seine drei Darsteller*innen sind die „Reaktionsmaschinen auf die Typen, denen Lulu begegnet“. In separaten, von einander getrennten Boxen beginnen die drei Lulus das Stück. Hier wird Lulu von den unterschiedlichen Männern ihres Lebens „besucht“. „Und Lulu empfängt ihren Besuch nicht mit Kuchen, sondern mit Backpfeifen“, verspricht Wiesner einen energievollen Schlagabtausch zwischen den Ensemblemitgliedern. Im Mittelpunkt steht natürlich Lulu. Besser gesagt, die Lulu, die Alabozova, Bordat und Wiesner uns sehen lassen. Jeder für sich hat eine anderen Perspektive auf Lulus Erlebtes. „Ich kann die anderen beiden aus meiner Kiste raus nicht sehen. Und das ist auch gut so. So kann ich meine Lulu sein, mich nur auf mich konzentrieren,“ sagt Marion Bordat. „Wir sind noch in der Findungsphase“, erklärt Wiesner. „Ich erspiele mir gerade noch meine Lulu.“ Meine – seine – deine – unsere: Genau so soll es für den Zuschauer sein. „Das Stück entsteht letztlich im Kopf der Zuschauer“,so Bordat. „Daher ist es wichtig, dass jeder von uns für seine Lulu steht. Ein Mann, eine ältere und eine jüngere Frau. Alle mit der gleichen Ausgangssituation, aber mit anderem Umgang.“ Wie Wiesner schon ganz zu Beginn sagte: „Reaktionsmaschinen“. Denn es wird nicht nur einfach ruhig reagiert, sondern es wird in sekundenschnelle mit unterschiedlichen Reaktionen quasi um sich geschossen.
Jeder einzelne Darsteller findet seinen Zugang zur Lulu und lässt sie dadurch lebendig werden. Für Alabozova stellt sich die Frage, ob Lulu eher Opfer oder Täter ist und sie kommt zu dem Ergebnis: „Meine Lulu begibt sich bewusst in ihre Rolle. Als Überlebensstrategie. Dadurch wird sie für mich zur Täterin“. Auch Wiesner sieht sie nicht nur in der Opferrolle: „Lulu spielt mit den Menschen und ihrer Rolle. Sie ist keine Lolita, die zufällig in diese ganzen Sachen reingerät. Sie hat eine Wahl.“ Dennoch: „Durch Machtmissbrauch ist Lulu in ihrer Situation gelandet“, greift Bordat ein. „Sie ist ein Mißbrauchsopfer. Und jetzt missbraucht sie.“ Das gemeinsame Fazit: Lulu ist ein Prinzip. Ein unbegreifbares, dafür umso interessanteres.
In zwei Gruppen wird der Zuschauer durch das Theater geführt. Erlebt Lulu und ihre Geschichte an unterschiedlichen Orten, nicht linear, aber jederzeit verständlich. Die Lulu-Darsteller können reagieren, aufeinander, auf den Zuschauer, der die Lulus begaffen kann wie Tiere im Zoo, auf das Erlebte und das Zukünftige. „Das macht die Arbeit an dem Stück so unglaublich aufregend“, erläutert Alabozova. „Jeder Abend könnte anders ablaufen.“ Das klingt spannend für Darsteller*innen und Zuschauer. Ludger Engels,von 2005 bis 2013 Chefregisseur am Theater Aachen, seit 2014 ist er regelmäßig Gastregisseur, ist bekannt für seine interdisziplinären und mutigen Inszenierungen. So inszenierte er in Aachen die deutsche Erstaufführung der Oper „Brokeback Mountain“ von Charles Wuorinen , das Schauspiel „FaustIn and Out“ nach Elfriede Jelinek oder das interdisziplinäre Camus-Projekt „Terror.Revolte.Glück“, um nur einige zu nennen.
„Ich freue mich auf den Moment der Premiere, wenn der Deckel oben auf meine Box kommt und es losgeht. Ihr auch?“, fragt Wiesner seine Kolleginnen. Sie sind sich einig. Sie können es alle kaum erwarten. Und wir irgendwie auch nicht. \
Am Rande
Inszenierung
Ludger Engels
Musik
Malcolm Kemp
Bühne
Volker Thiele
Kostüme
Raphael Jacobs
Dramaturgie
Inge Zeppenfeld
Schauspieler
Petya Alabozova, Marion Bordat, Tommy Wiesner, Torsten Borm, Thomas Hamm, Karl Walter Sprungala, Julian Koechlin, Marlina Mitterhofer, Melina Pyschny, Marco Wohlwend, Tim Knapper, Tina Schorcht, Alexander Wanat?\
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