Warum fiel die Wahl auf diesen Klassiker?
Das Theater Aachen wird in dieser Spielzeit 200 Jahre alt. Aus diesem Anlass haben wir nach Stoffen Ausschau gehalten, die das Theater selbst als Medium befragen und die zugleich einem großen Ensemble tolle Spielmöglichkeiten geben. So kamen wir auf „Die Möwe“. Tschechow ist ein Meister darin, Menschen in all ihrer abgründigen Komik auftreten zu lassen. Er erfasst dabei den psychologischen Kern des Menschseins, die Sehnsucht zu lieben und geliebt zu werden, Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren und eine sinnvolle Aufgabe für sich zu finden. In der „Möwe“ möchte ein junger, angehender Autor das Theater revolutionieren, er sucht nach neuen Formen und lehnt alles Alte ab. Das ist für mich als junge Regisseurin natürlich eine tolle Herausforderung, denn dazu muss ich mich in ein Verhältnis setzen.
Tschechows Werk gilt oft als arm an Handlung, aber reich an Dialogen und Figurenzeichnungen. Worum geht es in „Die Möwe“?
Tatsächlich ist „Die Möwe“ ein eher handlungsarmes Stück: In einem Gutshaus am See versammelt sich in den Sommerferien eine kleine Gesellschaft. Der ambitionierte Jungautor Kostja präsentiert sein erstes Theaterstück. Seine große Liebe Nina, die von einer Karriere als Schauspielerin träumt, tritt darin auf. Doch das Stück floppt völlig, Kostjas Mutter, die berühmte Schauspielerin Arkadina, verspottet sein Werk und dann verliebt sich auch noch Nina in Arkadinas Liebhaber, den Erfolgsschriftsteller Trigorin. Bei Kostja läuft also über vier Akte hinweg alles ziemlich schief. Für Tschechow war der Plot allerdings zweitrangig, ihm ging es vor allem darum, komplexe Beziehungen sichtbar zu machen. Ein zentrales Motiv in „Die Möwe“ ist der Generationenkonflikt zwischen Arkadina und Trigorin auf der einen, und Kostja und Nina auf der anderen Seite. Arkadina und Trigorin repräsentieren dabei den etablierten Kunstbetrieb, gegen den Kostja rebelliert. Zweites zentrales Motiv ist die Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung. Tschechow führt ein Ensemble an Figuren vor, die sich allesamt unglücklich verliebt haben. In ihrer tragischen Verzweiflung, in dem Gefühl, das eigene Leben an sich vorbeiziehen zu sehen, sind sie immer wieder auch sehr amüsant. Die titelgebende Möwe – der Vogel, den Kostja vom Himmel schießt und Nina schenkt – dient Tschechow als vielschichtige Metapher für all diese Verstrickungen. In unserem Bühnenbild, das Camilla Lønbirk und Olivia von Lüttichau entworfen haben, wird diese Möwe sehr präsent sein.
Wie setzen Sie das „Stück im Stück“ um?
Die Debatte darum, welche Kunstformen wir zeitgemäß finden, ist heute natürlich eine andere als zu Tschechows Zeiten. Damals ging es Tschechow um eine Kritik des naturalistischen Theaters, das die Welt sehr detailgetreu so abbildet, wie sie uns in der Wirklichkeit begegnet. Mit echtem Tee im Samowar und echten Tränen. Kostja stand hingegen für ein symbolistisches Theater ein, das abstrakter funktioniert. Wir haben das etwas aktualisiert. Arkadina repräsentiert bei uns das routinierte Stadttheatersystem, auf dessen großen Bühnen immer noch vor allem Klassiker gespielt werden. Kostja hingegen sehnt sich nach einem performativen, gesellschaftspolitischen und aktivistischen Theater, das sich zu den globalen Konflikten unserer Zeit, wie zum Beispiel der Klimakatastrophe, verhält. Er wirft dem etablierten Theater vor, unpolitisch zu sein
Ist „Die Möwe“ nun eher eine Tragödie oder eine Komödie?
Tschechow wählt als Genre das der Komödie. Ich würde „Die Möwe“ jedoch als Tragikomödie beschreiben. Die Frage „komisch oder tragisch“ diskutieren auch die Figuren im Stück. Ihr Urteil lautet: „Ein Zwischenfall. Ein Fall dazwischen.“ Mir ist es wichtig, diese Widersprüchlichkeit, die im Text angelegt ist, zu nutzen und zu verstärken. Dem Text liegt eine große Schwermut zugrunde, gegen die das Ensemble in einer komödiantischen, oft auch grotesken Weise anspielt. Es wird eine humorvolle Auseinandersetzung mit unserer oft schwer erträglichen Existenz.
Besetzung
Kostja: Jonas Dumke
Nina: Nola
Aradina: Elke Borkenstein
Trigorin: Tim Knapper
Mascha: Caro Braun
Sorin: Torsten Borm
Dorn: Thomas Hamm
Medewenko: DaraLalo
Team
Regie: Alina Fluck
Musik: Alexander Zwick
Dramaturgie: Lucien Strauch
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