Jargon aus Wirtschaft und Politik machte 2008 Systemrelevanz und Größe (to big to fail) zum Argument für Bankenrettungen. Nun ist die Betroffenheit größer. Geht es diesmal was mehr ums Wohl der Menschen? Die ganze Gesellschaft ist zumindest weitreichender und in weltweiter Wirkung betroffen. Man experimentiert mit der unterschiedlich eingeschätzten Systemrelevanz von Betätigungen, weil dieser unglückliche Begriff federführend geworden ist. Infrastrukturelle Bedeutung für die Funktionsfähigkeit und Daseinsfürsorge bei Bekämpfung der Pandemie ist aktuell für Systemrelevanz die Priorität, verwaltbar, bezahlbar und rechtsstaatlich durchsetzbar.
Um Künstler und Solo-Selbstständige macht man sich durchaus auch Sorgen, fördert und sucht staatlicherseits petitionsgetrieben nach weiteren Förderungen, aber relevant fürs System erscheinen Kunstschaffende zunächst nicht, was nach verzichtbar und nicht dringend nötig klingt. Bedeutend, aber ohne Stellenwert in der Gesellschaft. Allerlei Medienschaffen, publikumsentleertes Fernsehen, reaktiviertes Autokino, Texte, Fotos und Digitales gehen noch, was schon zeigt, dass es nicht um Generelles, um alles Kunstschaffen geht. Ausnahmen bestätigen, das es sich um eine menschgemachte Regel handelt und nicht um ein Naturgesetz.
Systemrelevanz. Ein assoziativ unschöner Begriff. System und umfassendere Gesellschaft sind nicht dasselbe. Hier prallen Welten und Sichtweisen aufeinander. Folgt man Niklas Luhmann, ist die komplexe Gesellschaft ausdifferenziert in unterschiedliche, autonom agierende und kommunizierende Teilsysteme (Politik, Wissenschaft, Recht, Wirtschaft, Religion, Kunst, Moral, Erziehung, Presse/Medien,) Welcher Art „das System“ ist, demgegenüber etwas coronamäßig relevant ist, ist wenig klar zu erkennen. Existenzsichernd geht es um Gesundheit, Versorgungssicherheit, Handlungsfähigkeit, Wirtschaftskraft, Grundrechte, Massenpsychologie, Angstbewältigung, Panikvermeidung, Zerstreuung und Entfaltungsmöglichkeiten. Öffentlichkeit, Nähe und Versammlungen sind eingeschränkt.
Ist die gerade in der Live-Version ausgebootete Kunst wenigstens gesellschaftsrelevant geblieben? Oder überzieht man, wenn mangelnde Systemrelevanz nach existenziell nicht wichtig klingt und an unausgestorbene Assoziationsketten zur Kunst wie: Luxus, elitäres Extra und Elfenbeinturm bzw. brotlos, Spielerei und Nebenfach denken lässt?
Dem widerspricht der Kultur- und Kreativwirtschaftsbericht 2018 mit 3% Bruttoinlandsprodukt, allein 100 Milliarden Euro Wertschöpfung ohne spezifische Unternehmen, Einrichtungen und Vereine , 1,7 Millionen Beschäftigten und 21,4 Mill. Besuchern bei allen Fußballspielen, aber 34 Mill. in Theater und Konzerten und 114 Mill. in Museen. Als Kreativ-, Unterhaltungs-, Tourismus- und Waren-Wirtschaftsfaktor selbst für die Schwarzmarktwäsche des organisierten Verbrechens ist Kunst unbestritten einflussreich und kennzahlenrelevant, als Warenwert. Und nach dem Konsum? Wie wirkt sichs aus? Was vermisst man ohne Kunstbegegnung? Andersherum.
Ist ein Baumarkt systemrelevanter, als ein Theater oder Museum, nur weil er öffnen durfte oder mehr Geld abwirft? Wird da bei den Einkäufen getrennt zwischen für Arbeitende zur Reparatur systemrelevanter Einrichtungen wichtigen Dingen, Dekoware, Gartensaisonvorbereitung, Beschäftigungstherapie und überflüssiger Unterhaltung? Bleiben die Menschen massenpsychologisch geduldiger, wenn sie irgendwas zu tun haben, statt nur Medien zu konsumieren? Ist Arbeit und pure Existenz alles im Leben? Zwischen Fußball, Party und Kunst scheint je nach Gusto ein Verlustgefühl spürbar zu werden. Verunsicherung gilt es vor allem zu verhindern, polarisierenden Medien, Politikern und Verschwörungstheoretikern zum Trotz. Hilft da der Baumarkt gerade systemrelevanter, nur weil er öffnen kann, nach Maßgabe von Mundschutz und Abstandsregel? Würden die Abstände in Kinos, Kneipen, Konzerten, Museen und Theatern eingehalten, ist das Angebot unter den gegeben Raumumständen wohl möglich. Ob die erzielbaren Publikumsmengen betriebswirtschaftlich sinnvoll sind, hängt am Einzelfall, an Logistik und Zahlungsbereitschaft (aktuell ein Viertel der Raumkapazität und unter 100). Dass man theoretisch öffnen kann, mindert den Anspruch auf Hilfsprogramme. Gute Absichten werden für die Kunst formuliert, wobei das Kleingedruckte gern hinterher einschränkt. Da treffen wieder Systeme und Denkweisen aufeinander.
Kostenlose digitale Hilfs- und Existenzbekundungen inklusive Agieren vom Balkon gab es zwar, aber es geht mit Abstand um mehr. Kulturschaffenden ist in unterschiedlicher Schärfe die Lebensgrundlage entzogen. Viele haben keine Betriebsmittel im betriebswirtschaftlichen Sinne, haben keine regelmäßigen Einnahmen, müssen die Qualität ihres Niveaus (z.B. Musiker) durch ständiges Üben aufrechterhalten. Sie können bildende oder sonstige Kunst, weil sie es (belächelterweise) studiert haben und wollen nichts anderes machen, weil sie sich nicht als unqualifiziert oder arbeitslos, sondern als beschäftigungslos sehen, ohne die Umstände beeinflussen zu können und weil klassische Verkaufswege abgeschnitten wurden. Durststrecke, Warteschleife, Schockstarre, Existenzangst sind die Folge. 95% haben schon in manchen Kunstgenres vorher Nebenjobs akzeptieren müssen, Grundsicherungsangebote und ihre einengenden Verpflichtungen (Vermittelbarkeit) führen noch weiter vom Tätigkeitskern und freier Intensität weg. Man trifft auf die Skepsis von Verwaltungsangestellten mit anderen Lebenswirklichkeiten und den erwartbaren Differenzen in Vorstellungen von gängig, üblich, normal, akzeptabel. Stirnrunzeln hat lästigen Rechtfertigungsdruck zur Folge. Unangenehm für beide Seiten, aber Kommunikationselement in einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Musik wird als Können leichter akzeptiert, als Kunst. Da mischt sich wieder persönlicher Geschmack und Bewertung von Leistung ein. Schulisch leider schon lange eine wenig geübte Auseinandersetzung wegen curricularer Nebenfachbewertung. Kunst wird unterschiedlich ernst genommen, hat Bedeutung, aber keinen Stellenwert. Wo zeigt sich in einer Gesellschaft die Relevanz von Kunst und Kultur? In Feiertagsreden, Alltag, Institutionen, Gesetzgebung, Bildungssystem oder Mentalität? Gibt es schon leopoldineske Thinktanks für Kulturverlustabschätzungen? Wahrlich komplex, das gesellschaftliche Miteinander, dem ein Gegeneinander und klein auf eingeübtes Konkurrenzdenken, Rankings und Likes entgegenstehen.
Soforthilfen und Sonderfonds, die der Lebenswirklichkeit von Kunstschaffenden nahekommen, wären zu diskutieren, wenn die Kultur nicht ausgedünnt werden soll, die doch viele in Brot setzt: Veranstalter, Regisseure, Kuratoren, Galeristen, Tourismus, Übernachtungen, Gastronomie, ÖPNV, Taxifahrer, Aufseher, Putzkräfte, Studentenjobs… Relevante Wechselwirkungen für Rettungsschirme, Stipendien oder Förderaufträge.
Man muss sich den nicht berechenbaren, schlecht bezahlten und doch Kosten aufwerfenden Freiraum und Mehrwert auch leisten wollen, den Kultur bietet. Also bieten sich neben dem Verzicht darauf und dann Leerlauf mit ausgelebter Langeweile daher zur Zeit das Surrogat im Netz und der Bestand zu Hause und Kunst im öffentlichen Raum an. Kann man so den neuen Zustand überbrücken und muss sich an neue Lösungen gewöhnen, Kultur neu denken oder nur die Flaute überstehen und Ballast oder Schwache, aber deshalb nicht Unwichtige über Bord werfen und mit einer Restkultur oder Mäzenatenglück weitermachen?
Es kann noch Monate dauern, bis unter den Bedingungen der Abstandsregel Veranstaltungen wieder möglich sind, gar in einer Fülle, wie sie die Märzausgabe noch zeigte. Clubkultur, Musikveranstaltungen, Tanz, Gesang, Ausstellungseröffnungen etc. sind unmöglich, gefährdet, eingedampft oder am Ende. Kontrollierte Museumsgänge im Uhrzeigersinn mit Abstandskontrolle und Maskenpflicht ohne Sitzmöglichkeiten, da desinfiziert werden müsste, strengen an und mindern den Genuß. Viel Provisorisches und onlinegestreamtes wird als Behelf und Präsenzaufrechterhaltung geboten. Ist das die neue digitale Wahrnehmungskultur? Sicher nicht ausschließlich. Bestimmte Veranstaltungsformen sind gerade nicht durchführbar oder finanzierbar. Das ist anders, als in der Nachkriegszeit oder einer Wirtschaftskrise.
Was also wäre da gesellschaftsrelevant, was vermisst man, was leistet Kunst im Original, die gerade outgesourced erscheint?
Sie bringt Menschen zusammen, regt sie an, erzeugt Erlebnisse, Gedankengänge und Objekte, die real berühren. Die wirksamer sind, weil man sich aufgemacht hat, weil man sich charismatisch begeistern lässt, weil ein Funke überspringt, weil man eine Resonanz spürt - in einer bedeutsameren Befindlichkeit Anregung findet, als auf der Couch. In komplexerer Weise werden die Synapsenspuren von Gehirnen angeregt und nachhaltig mit Erfahrungen und Verknüpfungen ausgestattet, mit direkter Körperresonanz und Geistesreizung, mit veränderten Handlungsmustern. Kunst deckt auch Mißstände auf, provoziert alte Strukturen, knüpft neue Beziehungen, kann Katalysator von Ideen, Hoffnungen, anderen Lösungen und Ängsten sein, wird Antrieb zur Sinnlichkeit, Einübung von Toleranz, Verfeinerung der Sinne, Wachheit des Geistes, Heiterkeit des Gemüts, Reflexion der Gegenwart, Deutung der Vergangenheit, Vision der Zukunft. Die Kunst kann die Kraft haben, den Menschen frei zu machen, ihn wahrnehmen zu lehren, neu zu orientieren, seelisch anzurühren und ihm helfen, freudiger auf die ständigen Veränderungen zu reagieren.
Kunst bringt weiter, ist Evolution für den Einzelnen, teils Offenbarung für die Menschheit, ein Ausweg aus den eingefahrenen Spuren, ein Trost. Dies hier mal als Anregung und ein Erklärungsversuch, der weit differenzierter analysiert und gesellschaftsbreit diskutiert sein will und von meinem begrenzten Verstand nicht abhängig sein darf. Vielleicht fallen Ihnen noch Argumente ein, nicht zu verzichten und hilfreich einzugreifen, damit Kunst und Kunstschaffende lebendiger und relevanter Teil der Gesellschaft bleiben.
WEITEREMPFEHLEN