Man sagt, es sei das Leben, das sich im Gesicht eines Menschen ablesen lässt. Jede Falte, jeder Schatten, jede Trübung und jedes Leuchten des Blickes zeugen von Freud und Leid, von Gesundheit und Krankheit, von Hoffnung und Verzweiflung. Im Fall des Malers Max Beckmann ist es allerdings viel mehr als das. In seine Selbstporträts hat sich die ganze Tragik der Zeitgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts eingeschrieben, das Trauma des Ersten Weltkriegs, die Widersprüche der Weimarer Zeit, die Nazizeit und der Zweite Weltkrieg. Die Bilder, von denen hier die Rede ist, sind Teil der insgesamt 130 Radierungen, Holzschnitte und Lithografien umfassenden Ausstellung, mit der das Aachener Suermondt-Ludwig-Museum unter dem Titel „Loge im Welttheater“ das herausragende druckgrafische Werk des Expressionisten Max Beckmann (1884 – 1950) würdigt. Die Ausstellung, die in dieser Form erstmals in Aachen gezeigt wird, korrespondiert mit der Schau „Aufbruch in die Moderne“, die im gleichen Haus noch bis zum 20. November 18 hochkarätige Gemälde des Expressionismus aus der Stolberger Peltzer-Sammlung präsentiert. Die 1920er Jahre haben Konjunktur. Seit einigen Jahren lassen Fernsehserien, Filme und ganze Buchreihen die Zeit wieder aufleben, und es finden sich immer wieder Gemeinsamkeit mit unserer Gegenwart es gibt. Für Kuratorin Wibke Birth liegt genau darin die Faszination vieler Menschen für die klassische Moderne. Und Beckmanns zeitgenössischer Blick ist unverstellt. „Es hat uns selbst überrascht, wie unerwartet aktuell die Ausstellung ist“, sagt Birth. „Die Themen, die Beckmann aufgegriffen hat, wiederholen sich mit einer Brisanz, die noch vor wenigen Jahren niemand für möglich gehalten hätte.“ Den Kern der Ausstellung bilden die drei großen Mappenwerke der Zwischenkriegszeit, „Gesichter“, „Jahrmarkt“ und „Berliner Reise“. Beckmann kehrt bereits 1915 als psychisch gebrochener Mann aus dem Ersten Weltkrieg zurück, in den er mit Begeisterung gezogen war. Zunächst lässt er sich in Frankfurt am Main nieder. Dort beginnt er in einer intensiven Zeit der Neuorientierung, die Kriegserfahrung mit der Radiernadel zu bannen. Die Kupferplatte wird zum Hauptträger seiner Kunst und begleitet die Suche nach einer neuen Bildsprache, die dem erlebten Entsetzen gerecht wird. Während viele expressionistische Künstler den Weg der Abstraktion wählen, bleibt Beckmann dem Gegenständlichen treu. In seinen Porträts zeigt er schonungslos die innere Zerstörung. Aus ausgemergelten Gesichtern blicken leere, wirre Augen. Nach und nach ziehen andere Motive ein, wird Beckmann zum kraftvollen Interpreten des Scheinlebens in der Weimarer Republik. Er begreift die Welt als Bühne. Sein Blick richtet sich allerdings hinter die Fassaden und unter die Masken. Dort finden die Tragödien statt, die dafür sorgen, dass über jedem Glitzer ein Schatten liegt. Das gezeigte Konvolut entstammt der Sammlung des Aachener Kunstmäzens und Ingenieurs Thomas Kempen (1958 – 2020). Nach seinem Tod haben seine Kinder die Sammlung der Stadt Aachen als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt, zunächst für fünf Jahre. \ Christian Rein bis 15.1.2023 „Max Beckmann – Loge im Welttheater“ Suermondt-Ludwig-Museum Aachen
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