Wenn man die Herzkammer der Ausstellung Hyper Real betritt, dann packt einen die Sogkraft der getakteten Bilder und man erfährt am eigenen Leib – stehend oder mehr oder weniger lässig auf Sitzsäcke geflätzt - die Wucht medialer Bilder. Zeilenförmig ist die Wand ringsum mit bildgebenden Rechtecken belegt. Oben die Filmplakate. Darunter attackiert auf Augenhöhe eine Sehschlitzbatterie von Bildschirmen mit voller Ladung die Sehnerven. Vier Breitseiten mit Filmen der 1970 bis 2000er Jahre, die die Jahre um 1970 thematisieren, rekapitulieren aus verschiedenen Perspektiven und zeitlichen Distanzen die Atmo dieser Zeit, bzw. die Atmo, die ins kollektive Gedächtnis gedrungen ist, bzw. dringen sollte. Bewegte Bilder für bewegte Jahre, die den öffentlichen Blick auf private Welten und bis dahin unter Verschluss gehaltene Wirklichkeiten preisgegeben haben. Was einem in diesem buntbefleckten nüchtern weißen Raum deutlich wird, ist der Unterschied zwischen der Eindringlichkeit filmischen Materials gegenüber den weniger konsumfreundlichen Stills: den Filmplakaten in der oberen Reihe, den Bildern der Plattencover darunter und den Büchern und Zeitschriften im Regal am Boden. Damals schien der multimediale Transfer freier, unmanipulierter, kritischer aber auch unselektierter. Freiheit am Ufer kommender Reizüberflutungstsunamis, denen standzuhalten die Kraft des Individuums kostet und als Kunst des Ausblendens und Aussteigens trainiert sein will. Was sind das für Bilder und amerikanische Träume, die da in europäische Hirne geschwappt sind? Es sind vor allem gewalttätige Bilder, Alltagshöllen sich gegenseitig quälender und demütigender Menschen. Rudimentäre Bilder von Rache und Verzweiflung, vom Wahnsinn des Krieges und organisierter Strukturen. Es sind Auseinandersetzungen mit Krebs und Drogenkonsum. Es ist die veredelte Raumfahrt und ihre unendlichen Weiten, es ist die globale und regionale Erfassung der Folgen ungehemmter Wirtschaftsexpansion und der müllionen Relikte des Konsums. Die Plattencover greifen silhouettengraphisch, fotografisch und psychedelisch diverse künstlerische Richtungen auf. Musikalisch ist von Folk bis Funk für jeden was dabei. Schlammige Freiheitsmomente à la Woodstock machen Musik zum gemeinsamen Gefühlsnenner. In jedem Falle werden die amerikanischen 70er hier als eine Phase deutlich, die nichts mit der gelackten nostalgisch vermarkteten 70er-Retrodesign-normierung zu tun hat, die heutzutage arg verkürzend als damaliger Zeitgeist verkauft wird. Die von Medien und Warhol fabrikmäßig hergestellten Bilderfluten begannen um Aufmerksamkeit zu konkurrieren und ihre angebliche Wichtigkeit aufdringlich in die Bildgedächtnisse der Weltöffentlichkeit zu implantieren. Reisserisch und sentimental verkauft sich eben besser und daher sticht bis heute der Serienkiller den Taschendieb aus und das spektakuläre und bewegte Bild die adrenalinientreu und marktstrategisch hinterher hechelnde Welt der künstlerischen Bilder. Die Reiz-Reaktionserfahrungen und Methoden der Werbepsychologie sind mit Schock-, Ekeltheraphie- und Sex-sells-Effekten auch in die Kunst vorgedrungen. Dass es auch noch die Wirklichkeit funktionierender Beziehungen, imposanter Landschaften und angenehmer Erfahrungen gibt, geht seitdem unter all dem Lärm der Medienwirklichkeit fast verloren. Ein wenig dieses privaten Glücks und banalen Durchschnittsgeschehens hat sich bildlich von kuratorischer Hand gelenkt, zentrifugal in den Außenkammern des Ludwig Forum gesammelt und fordert vom Betrachter Zeit und mediale Trainiertheit, um die Verwirrung zu vermeiden, die der Wunsch mit sich bringt, die komplette Ausstellungssubstanz erfassen zu wollen. Hier spürt man dann: Es kann nicht um ein „Das sollte man gesehen haben-Event“ allein gehen und um 2 Sekunden Erfassungsgeduld pro Bild, sondern eine solche Ausstellung bietet einen Gliederungsvorschlag und ein Zusammenhangsangebot für die Gleichzeitigkeit individueller Bilderzeugung, die in der vergleichenden Auseinandersetzung einen Zugewinn an Erkenntnis stiften können und die kollektive Erinnerung neu sortiert und gewichtet. Und das geht nicht hauruck, auch wenn man die meisten Bilder schon zu kennen glaubt. Zu gucken gibt es mehr als genug. Häufiger ist mehr. /// Dirk Tölke
bis 19.6.
Hyper Real – Kunst und Amerika um 1970
Ludwig Forum für Internationale Kunst
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