Von Dirk Tölke
Mit enormer Gestaltungsphantasie hat Hermann Josef Mispelbaum (*1944) in den letzten Jahren in seinem Wohnhaus einen figurativen Kosmos geschaffen, der mit 35 Exemplaren erstmals in dieser Fülle als Werkgruppe in den BBK-Kulturwerk-Räumen der Aachen-Arkaden sichtbar wird.
Im Kern sind es Alltagsgegenstände, die er zu stelenhaften Körpern kombiniert hat. Die oberflächlich skurrilen Phantasie-Formungen sind allemal sinnträchtig und gegenwartskommentierend. Gallig, humorvoll, schmerzbeladen und widerstandswillig kommt ein vielgestaltiger figurativer Seelenparcours daher, der durch seinen einheitlichen Ausführungsduktus zu einem Ensemble wird.
Persönliches Welterleben gerinnt hier zu charaktervollen Materialcollagen, deren Titel diesen gar nicht weltfernen Protagonisten eines absurden Theaters Namen geben und durch die schaffende Auseinandersetzung wohl auch Ängste nehmen: „Patient, Avantgardist, Golgatha, Erdhospital, Diktator, Tanz der Salome oder Garten der Vergessenheit“.
Filigran und zärtlich
Provokant schelmische Poesienamen, die den Betrachterblick als Empfindungshilfe sensibel assoziativ leiten. Technisch, kombinatorisch und kompositionell ist das gekonnt und gestalterisch verfeinert. Erstaunlich, wie filigran und zärtlich man Gips als Formkitt disparater Hinterlassenschaften eines katholischen Haushalts bearbeiten kann.
Hermann Josef Mispelbaum trat bisher als Zeichner und Maler hervor. Als Zeichner hat er eine Technik entwickelt, in der Montage und Ausmerzen schon eine gewichtige Rolle spielten, weil er skizzierte Linien nicht einfach radierte, sondern ausschnitt und diese Rudimente kürzte und umschichtete.
So behielt die Skizze ihre Ursprünglichkeit und ihre spontane Präzision und konnte als nun deutlich gesetztes Bildsegment neu verwertet werden. Sie wurde zum sichtbaren Baumaterial einer konstruierten und montierten Zeichnung. Dieses Verfahren entspricht dem Wortmetzen eines Poeten, der einen Seelengehalt ausdrücken will und dafür nicht an den Worten selbst feilt, sondern an dem Gefüge arbeitet, in das sie passen soll.
Collagierte Raumkörper
In seinen 1997 nebenbei begonnenen und nach 2010 zum zentralen Ausdrucksmittel gemachten Plastiken benutzt nun Mispelbaum Gegenstände aus dem Haushalt seiner verstorbenen Mutter als solche Rohmaterialien. Er fügt sie als Formträger in einen neuen Kontext ein und nicht als Sinnträger.
Vielmehr löscht er wie beim Prozess des Schneidens und Radierens ihre formale Eigenständigkeit durch eine Übertünchung mit Gips und eine Bandage durch Krepppapier. Hier wird kein Bildhauer tätig. Im Grunde überzieht Mispelbaum malerisch mit flüssigem Gips und mit Papiermasse einen montierten dreidimensionalen Raum.
Dabei vereinheitlicht er die collagierten Raumkörper zunächst durch einen Überzug in schwarz-weißem Farbraum und wagt sich erst in den zuletzt entstandenen Arbeiten an farbige Oberflächen, in denen weniger analog zu den nüchternen Zeichnungen nun Blau und Rosa bis orangebraun dominieren.
Partystimmung und Avantgardemarketing
Die in der teils graphisch überarbeiteten Kleinteiligkeit der Gipsschollen und -gerinsel entstandene materiallastige Malerei, hat durch gestischen Auftrag informelle Strukturen und Hautdichte bekommen. Im Laufe der Zeit hat er eine illustre Schar von munteren Monstern und Seelenwesen zum Leben erweckt, die den Anfechtungen des Lebens mit heiterem Gemüt und trotziger Kenntlichmachung in einem erfindungsreichen Neuland entgegentreten.
Eine schöpferische Potenz mit Tiefe und geistvollem Witz, die ein Knaller abseits von Wohlstandsseeligkeit, Partystimmung und Avantgardemarketing ist. Wahre Hingucker, die mit der Betrachterzeit stetig gewinnen. So vollständig und gut sichtbar wird man diese rohcharmante Großfamilie wohl lange nicht mehr beisammen finden. Schnell noch besuchen. ///
Bis 10.11.
Hermann Josef Mispelbaum Grottesken – Skulpturen des Zeichners
BBK – Kulturwerk Aachen, Aachen-Arkaden
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