Von Dirk Tölke
Heute müsste die Erneuerung der Glasmalerei in den Architektenkammern und Hochschulen ansetzen, die diese unberechtigt noch zu sehr mit Kunstgewerbe, Kirchenkunst und Beeinträchtigung eigener Entwürfe in Beziehung bringen, statt bei soviel verbauter Glasfassaden mit digitaler Gestaltung, atmosphärischer Belebung, farbiger Gliederung, zeitgenössischer Bildsprache ohne Bleiruten oder mit solchen (Graffitis oder Streetart wären da in Grafikkonturanalogie denkbar). Nach 1945 erneuerten Liturgiereform, zeitgenössische Kunst und architekturbezogene Abstraktion Denken, Gestalten und Raumwirkung. Für eine glasmalerische Autonomie und einen Ebenbürtigkeitscharakter als Kunstform steht das Werk Johannes Schreiters.
Johannes Schreiter, letzter lebender Aktiver der in der Nachkriegsglasmalerei einflussreichen Künstler, hat sich am intensivsten mit theologischen und philosophischen Fragen auseinandergesetzt. Eine krankheitsbedingt späte Reaktivierung von evangelischer Religiösität und sein geisteswissenschaftlich mitgeprägtes Studium trugen dazu bei. Zugleich trug er zeitgenössische Moderne als Maler in die Glasmalerei ein, etwa ab 1957 durch die Yves Klein nahe Brandcollage, durch typographische Schriftelemente und durch Zeichensysteme des Alltags, die seine umstrittenen Entwürfe für die Heidelberger Heilig-Geist-Kirche kennzeichnen, in der bis zum Dreißigjährigen Krieg 1618-48 die Wissenschaft einbeziehende Bibliotheca Palatina beherbergt war. Dort wurde nur das Physik-Fenster realisiert, das zeichenhaft Apokalypse und Atomkraft darstellt. Im Linnicher Museum wurde das Musikfenster realisiert mit Noten unter anderem von John Cage. Nicht verwirklicht wurden Philosophie, Verkehr, Medizin (Herzschlag eines Babys, EKG eines Sterbenden), Biologie, Chemie und Technik. Das war als weltzugewandtes Christentum noch zu provokant für 1984. Weder gefällig meditative Harmonie, noch figurativ leicht verständliche Botschaft, fordert diese Bild-Wort-Zeichenwelt zu eigenem Denken und Entschiedensein auf. So wirkt auch die lebendig strenge Geistigkeit anderer Fensterentwürfe abseits traditioneller und überlieferter symbolischer Bilderwartung. Herausfordernd eigenständig.
Neben Texten und Chiffren, etwa U-Formen, die als Klammer, Betender, Beschwörender abstrahiert lesbar sind, sind typisch abgestuft einfarbige Flächen mit individuellen und autonomen linearen Brüchen, die oft frei als Schwarzlotlinie oder Kunststoffauflage mitten im Glas auslaufen, statt Bleirutenkontur zu sein. Lebendig strenge Geistigkeit bindet sich den Formvarianten eines eigenen abstrakten Bildvokabulars ein, das Schreiter zusehends nutzt. Das Wort, die Schrift, der Buchstabe spielt darin eine wichtige Rolle. In seiner meditativen Belebung ist dieser Bildwelt ein religiöser Impuls in Richtung einer Spiritualisierung der Raumerfahrung spürbar.
Zahlreiche, didaktisch mit Textafeln erläuterte freie und architektonisch gebundenen Arbeiten sind im Museum zu sehen. Sparsamkeit, asketische Strenge, und reduzierte Farbwahl sind die gemeinsamen Nenner einer darin einbrechenden kalligraphischen Freiheit brüchiger Linien, deren Skizzenhaftigkeit in variantenreicher Kontur inszeniert ist. Johannes Schreiter selbst hat sein Werk und seine Vorstellung zur religiösen Kunst in zahlreichen Vorträgen und Veröffentlichungen ausführlich dargelegt. Wegen Baumaßnahmen an der Brücke vor dem Museum ist die Befahrbarkeit eingeschränkt. \
Johannes Schreiter
wurde 1930 in Annaberg-Buchholz/Erzgebirge geboren. 1949-57 Werkkunstschule Münster, Landeskunstschule Mainz, HBK Berlin. Staatsexamen für Kunsterziehung und Kunstgeschichte. 1957-59 freiberuflich in Bonn, 1960-63 Dozent der KHS Bremen, 1963-87 Prof. für Malerei+Graphik an der HBK Frankfurt/M., dort 1971-74 Rektor. Architekturbezogene Glasmalerei wird ab 1975 Schwerpunkt. Gastdozenturen ab 1980 in Großbritannien, Kanada, USA, Australien und Neuseeland. Dort 1983 schwer erkrankt. Nach Rückkehr christliche Neuorientierung, Genesung 1988. Lebt seit 1991 in Langen. \
bis 27.10.
„Licht-Zeichen. Die Kunst des Johannes Schreiter“
Deutsches Glasmalerei-Museum, Linnich
29.9.
Vortrag von Kurator Gunther Sehring: „Schreiters Zeichnungen und Collagen – der Einfluss ‚freier‘ Medien auf die Entwicklung des glasmalerischen Gesamtwerks“. Mit anschließender Führung (6/4,50 Euro)
14.30 Uhr, Deutsches Glasmalerei-Museum, Linnich
Website Deutsches Glasmalerei-Museum
WEITEREMPFEHLEN