Von Dirk Tölke
„I want you to panic“, formuliert Greta Thunberg angesichts einer Veränderung der Natur, die beschleunigt und über die unabänderlichen Prozesse von „werden, sein, vergehen“, „Verfall und Neubeginn“ oder jahreszeitliche Zyklen hinaus Probleme schafft, beziehungsweise mit uns hat. Was ist das für eine Natur, um die wir uns Sorgen machen, deren verschwindende Vielfalt wir als Schädigung und Verlust wahrnehmen? Eine Natur, die auch ohne den Menschen weiterexistiert und ihn mit ihren Kräften in die Defensive drängt und in die Flucht schlägt. Wie nehmen wir diese Veränderung wahr?
Medial durch Bilder, Berichte und Statistiken. Persönlich durch Nahrungsmittelqualitätsschwund, durch Gedächtnisspeicher als Veränderung von Wetter, Wasser oder Luft, durch Kontakt mit Haustieren, Zimmerpflanzen oder Spaziergänge von der Wandervogelbewegung bis zum wellnessgepeppelten Waldbaden, durch Reisen zu den Gegenden, in denen Müll strandet, abgeladen wird oder mangels Infrastruktur und Bewusstsein noch nicht getrennt wird. Bilder von Überschwemmungen, Smog und Plastikmüll im Meer rütteln da auf zu Gegenmaßnahmen. Gucken kann zwar jeder, Wahrnehmen und Zusammenhänge sehen ist zu Teilen erreicht, Handeln und verantwortung zeigen bleibt noch. Mehr die kapitalistische Warenproduktion von Halden, als zu viele Menschen ist das Problem. Dabei kennen wir immer noch erst vier Prozent der Tiefsee und unbekannte Lebensformen verschwinden in dieser überreichen Umwelt, bevor wir sie kennen, zum Beispiel im Regenwald. Zumindest überbordende Schöpfungskraft umgibt uns. Überwältigend schöne Naturerfahrungen neben erbarmungslosen Naturkräften, neben Giftmüll, Bombenkratern und künstlichen Parallelwelten, die beide seit den 70ern in den Fokus rücken.
Das Bild von der Natur ist in der Kunst schon lange vorverhandelt worden und heute im Fotomeer der Medienlandschaft sichtbar. Der Blick auf die Natur ist ein distanzierter, ein sezierender, angstvoller, neugieriger, staunender, mögend heimatlich regionaler, meist aber ein städtisch-intellektueller auf eine verlorengeglaubte Idylle oder Nähe. Kann man eins sein mit der Natur, allein weil der Leib sich der völligen Kontrolle entzieht und „natürlich“ reagiert, sich in naturgesetzliche Prozesse einfügt?
Und dann die Gegenseite, die Überwindung der Schwächen durch Technik, durch Prothesen und cyborgmäßige Verbesserungen und die heilsbringenden Versprechungen der Robotik und KI: ewiges Leben durch Organaustausch, Effektivität bis ins Greisenalter, höhere Taktung von Prozessen, seelenlose Optimierung. Eine mit Emotikons ausstaffierte mechanische Pflegehilfe muss es im Alter tun. Für den Mitmenschen lassen da Arbeitsfron und Hedonismus keine Zeit. Individuelle Selbstverwirklichung bis zur Vereinsamung. Beglückung durch Disneyland, Online-Rollenspielwelten, Ersatzbefriedigungen und Privatnischen. Wieviel Künstlichkeit, technisch Selbstgeschaffenes gehört zum Menschsein? Ist Natur das Andere da draußen, außerhalb der Hirnregionen?
Genauere Wahrnehmung von Natur und Ersatznaturen, Kunst und Künstlichkeit fordern die Ausstellungen mit den vielen Blickrichtungen der Arbeiten heraus. Ob romantisches Schwelgen und Einfühlungsversuche, Dramatik von Katastrophen und Bedrohung, Blicke auf Schöpfungsvielfalt im Kleinen, Fernen und Entlegenen in der Land-art. Man kann Erfahrungen machen mit Strukturen, Farben, Formen und Klängen und Allem zusammen. Etwa in Tom Otto Roths Installation AIS2 (siehe Nebenspalte), auch im Liegen.
Die individuelle Anonymität von Schaufensterpuppenköpfen porträtiert Louisa Clement, geht in ausufernden Fotoserien zu Prothesendetails und zuckerglasurkünstlichen Kunststoffhautoberflächen von sinnlich arrangierten Schaufensterpuppen der Künstlichkeit auf den Erfahrungsgrund. Eindrucksvoll vermittelt das filmische Handschuhstreicheln solcher Körper die Empfindung lebloser Sinnlichkeit. Mit akuratem Unbehagen fremdelt der Leib gegenüber klinisch technischer Körperlichkeit, die sich in unser Leben schleichen möchte. Statt Gänsehaut- nur Kunststoffhautfeeling. Will man das, kann man sich solchen Geschäftsmodellen entziehen? Ist das wünschenswerte Zukunft? Das braucht die lohnende Zeit zur Auseinandersetzung, denn Begreifen dauert. Das liegt in der Natur der Sache. \
Tim Otto Roth
In den dunklen Tiefen des antarktischen Eises registriert ein vergrabenes Meßpunktraster seltene Neutrinoeinschläge aus dem All. Dem hat der Künstler seine Installation nachempfunden. Licht und Klang gebende Kugeln an Kabeln in seriellem Raster auf gleichem Abstand leuchten rhythmisch zu Klängen, die keinesfalls neckisch Vogelpiepsen, Windsäuseln und Wasserrauschen nah, aber künstlich in gemacht naturgesetzliche Empfindungswelten trägt. Farbig nachvollziehbar, im Liegen sensorisch unmittelbar erfahrbar. Ein looperweiterte Farborgelmaschinerie zur Neuwelterkundung. Reizvoll assoziativ. \
bis 10.11.
„AIS²“ – Ein Klanglaboratorium von Tim Otto Roth
bis 26.1.
Louisa Clement – „Remote Control“ sowie „Natur betrachten“
Ludwig Forum für Internationale Kunst
www.ludwigforum.de
WEITEREMPFEHLEN