Von Dirk Tölke
Die direkte Nachkriegszeit und die Veränderungen in Politik, Alltag und Medien in Aachen, als erster befreiter deutscher Stadt ab 21. Oktober 1944 und erster freier deutscher Nachkriegspresse ab 24. Januar 1945 thematisieren das Couvenmuseum, das Centre Charlemagne und das Internationale Zeitungsmuseum Aachen in drei quellenhaltigen Ausstellungen.
In nüchterner Inszenierung gehen die Ausstellungen, insbesondere im Centre Charlemagne die Darstellung der unmittelbaren Nachkriegszeit und ihrer Voraussetzungen an, denn Emotionen sind auch ohne Effekte zu erwarten, angesichts der Verluste (Aachen war zu 63 Prozent zerstört), den Arisierungen, Verbitterungen, skeptischen Fragen nach Mittäterschaft, Mitläufertum, verpasster Rechenschaften und Überlebensverhältnissen. Im Rahmen der Möglichkeiten werden nachvollziehendes Verstehen und Aufklärung in die Wege geleitet, durch Quellenmaterial eine gewisse Unmittelbarkeit des Nachempfindens ermöglicht. Ein Einstieg, den der umfangreiche Katalog für gut angelegte 24,90 Euro vertieft.
Jedesmal in der Geschichte, wenn Systemwechsel vollzogen werden, springen zunächst Oppositionelle über die Klinge, werden Querdenker inhaftiert, Konkurrenten entlassen und eine vorurteilsbelastete Bevölkerungsgruppe wird um ihre Besitztümer gebracht, die den Schergen der neuen Macht Entschädigungsbesitz für ihre Unterstützung bringt. Darum geht es meist mehr, als um Macht und Ideologie. So schafft es ein personell kleiner Trupp bald zehn Prozent Karrieristen, Mitläufer und Wechselwirkungsunterschätzer als Unterstützer und Kontrolleure einzubinden, anfänglich von angsteinflössenden Schlägertrupps begleitet, die dann eine schweigende Mehrheit mitziehen, die Moralität im Verborgenen weiterleben muss, angesichts von Überwachung (zum Beispiel 189.000 SED-Spitzel für Millionen Bürger) und Drangsalierung. Wenn dann die Macht wankt, beginnt die Abrechnung, die Vertuschung, die Befehlsempfängererzählung, da ja demnach von niemandem erwartet werden kann, für seine Überzeugungen Nachteile und Tod in Kauf zu nehmen, dabei waren etwa nur 50 Prozent aller nach 1933 neu eingestellten Professoren in der NSDAP.
Eine Bevölkerung kann nicht ausgetauscht werden oder zum Umdenken gezwungen werden, wie der amerikanische Offizier Padover lernen musste, beauftragt, angesichts der Konfrontation mit Zivilisten statt Soldaten, die Einstellung der Deutschen zu prüfen (alles Nazis?) und in seinem Bericht (Lügendetektor) Demokratisierungsmöglichkeiten zu erkunden.
Fazit: Man brauchte zum Wiederaufbau, etwa einer Elektrizitätsversorgung, Fachkräfte, die belastet waren und in der Neuanstellung Verwandte und Seilschaftskollegen mitzogen. Die vorhandenen Überzeugungen und Haltungen zwischen Befreiungseuphorie und Besatzerressentiments ändern sich nur zögerlich, meist mit der neuen Jugend. Entnazifierung, Umerziehung, Amerikahäuser (das Nächste war in Köln), Wiederbewaffnung als Natopartner gegen die kommunistische Bedrohung in ab 1949 zwei deutschen Staatssystemen, in Aachen wurde manches erprobt. Ein Neubeginn mit Demokratie und Toleranz, in den die meisten erst hineinwachsen mussten, Unsägliches verdrängend, Entbehrungen erduldend, verschwiegen, um Kontakte möglich zu machen, in ruinösen Abenteuerspielplätzen selbstverantwortlich und wegen Aufbaustress (helikopter)elternfrei aufwachsend, im Mangel erfinderisch, woran das Couvenmuseum mit materieller Alltagskultur erinnert. Die Auseinandersetzung mit den Ausstellungen ist nicht nur historisch und lokal interessant, ihre aufgezeigten Phänomene erinnern an die Wendezeit und Gegenwart. \
Und heute?
Gefährdete Demokratien weltweit befinden sich in gleitenden Übergängen, von lukrativen medialen Einflussgewittern umtost. Egoisten mit Gewaltbereitschaft diskreditieren ihre Mitmenschen als nicht lebenswert, polen um und polarisieren, als wenn man nicht eine Vielfalt allein der Berufe bräuchte. Andersdenkende werden zu Feinden. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Radikale Ungeduld. Toleranzdämmerungen. Schon mehr als Anfänge, denen es zu wehren gilt. Den Geschäftemachern im Schlepptau ist letztlich alles recht. Es ist bald wieder irgendwo Diktatur. Was sagt die Börse dazu? \
bis 29.3.
„Wir Nachkriegskinder –
Alltag zwischen Not und Nierentisch“
Couven Museum
bis 8.3.
„Alles auf Anfang? –
In Aachen beginnt die Nachkriegszeit“
Centre Charlemagne
bis 1.3.
„Der Krieg ist aus! – Die Entstehung der Aachener Nachrichten und der Wiederaufbau“
Internationales Zeitungsmuseum
Website Couven Museum
Website Centre Charlemagne
Website Internationales Zeitungsmuseum
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