Von Richard Mariaux
Ging es zuletzt in „Unschuld“ (2015) um eine ostdeutsche Hacker-Biografie, ringt hier geradezu unschuldig eine Pfarrersfamilie in den 70er Jahren mit ihren verstörenden Geheimnissen und ihrem Drang, trotzdem gute Menschen sein zu wollen.
Wie kein anderer US-amerikanischer Autor steht Jonathan Franzen für eine literarische Gattung, die in den 80er und 90er Jahren nicht nur in Vergessenheit geraten, sondern sogar von der Kritik übel beleumundet war. Denn das Zeitalter der Postmoderne, des essayistischen Romans, das Spiel mit Meta-Ebenen und -Fiktionen verdrängte die klassische Erzählstruktur, die eine stringente Traditionslinie an Autoren von Tolstoj, Dostojewski über Thomas Mann bis hin zu einer jüngeren Generation wie John Updike, Philip Roth oder Saul Bellow aufwies. Franzen, Jahrgang 1959, verhalf wiederum mehr als anderthalb Generationen später dem erzählenden Roman wieder zu mehr Ruhm. Interessanterweise erschien sein Debüt und Mega-Seller „Die Korrekturen“ 2001 zeitlich genau zwischen den ersten qualitativ hochwertigen, an einer Romanstruktur orientierten Fernsehserien „The Sopranos“(1999) und „The Wire“ (2002).
Franzen macht in seinen Romanen keinen Hehl aus seinen Bezügen zur deutschen Wirklichkeit. Thematisierten „Die Korrekturen“ noch den pessimistischen Weltblick Arthur Schopenhauers, war es in „Unschuld“ die These einer Ähnlichkeit zwischen dem Unrechtsstaat der DDR und den heutigen Datensammlern im Internet sowie der digitalen Überwachung. „Crossroads“ spielt nun unter deutschstämmigen Bürgern, die in den 70er Jahren in einem kleinen Ort unweit von Chicago leben. Russ Hildebrandt ist der Pfarrer einer kleinen, ausnahmslos weißen Pfarrgemeinde. Zusammen mit seiner Ehefrau Marion und drei ihrer vier heranwachsenden Kinder gehört er zu den Protagonisten des Romans.
Die als spießig dargestellte Familienkonstellation gerät ins Wanken, als Russ von einem charismatischen jüngeren Hilfspfarrer aus einer Kirchenjugendgruppe innerhalb der Gemeinde herausgedrängt wird. „Crossroads“ – so ihr Name – ist weniger eine religiöse als vielmehr der sozialen Selbsterfahrung dienende Gruppierung, die die weiße Mittelschichtsjugend in ihrer eigenen Blase vegetieren lässt.
Gemobbt von jungen Mitgliedern dieser Gruppe und im Stich gelassen vom jüngeren Kollegen, lässt diese Demütigung den charakterlich schwachen Russ Dinge tun, die letztlich seine Familie auseinanderbrechen lassen. An seiner unterstützenden Ehefrau, die sogar noch seine Predigtredigiert, hat er jegliches Interesse verloren. Er stellt lieber einer jungen, attraktiven Witwe in der Gemeinde nach und lässt sich auch mit ihr – des erotischen Fortschritts zuliebe – auf eine gemeinsame erste Marihuana-Erfahrung ein. Auch sein übergriffiges Helfer-Syndrom als Spendensammler bzw. Handwerker für die benachbarte schwarze Chicagoer Gemeinde oder die „Crossroads“-Gruppenfahrt ins Gebiet der indigenen Navajo stößt dort mindestens auf Unfreundlichkeit, wenn nicht gar ruppige Ablehnung. Eine solche gut gemeinte „kulturelle Aneignung“ war in den 70er Jahren noch kein hinterfragtes Konzept.
Seine drei ältesten Kinder – Clem, Becky und Perry – sind entweder Agnostiker, glühende Gottesverehrerinnen oder hochbegabt und manisch-depressiv im Drogenkreislauf gefangen – ihre Handlungsweisen sind immer gezielt gegen den Vater gerichtet oder haben eine fatale Wiederholungstendenz, deren Ursprung in der – allen verheimlichten – Biografie der Mutter zu suchen ist.
Franzen entfaltet ein Panorama von Menschen als widersprüchlichen Wesen, die Gutes wollen, aber Böses tun. Perry, der 15-jährige intelligenteste Sohn der Familie, bringt angetrunken dann auch mal gezielt einen evangelikalen Pfarrer und einen Rabbi in eine theologisch-moralische Bredouille: Er will von den Herrschaften wissen, „ob gute Werke wirklich um ihrer selbst willen getan werden können oder ob sie, bewusst oder unbewusst, immer einem persönlichen Zweck dienen“.
Die Erzählperspektiven wechseln zwischen den Eltern und ihren drei älteren Kindern. Lebensmodelle werden unterschiedlich – in oft zu ausufernden Dialogen – beleuchtet: Patriotismus aus hehren Beweggründen versus Pazifismus (wir befinden uns im Vietnamkrieg), die von der Tochter hochgehaltene Keuschheit vor der Ehe als göttliches Zeichen versus die sexuelle Begierde der Eltern, die theologisch wie philosophisch vergeistigte Entscheidung für Drogenkonsum. Aber es sage niemand, dass es nicht alleine im Oeuvre von John Updike ausreichend viele Gesellschaftspanoramen einer WASP-Mehrheit aus dieser Zeit gäbe …
Jonathan Franzens in der Regel ziegeldicken Romanen kann man sicherlich gehobenen Unterhaltungswert attestieren. Doch es wird sich zeigen müssen, ob uns zwei weitere Bände über die Familiengeschichte der Hildebrandts neugierig genug bleiben lassen. Der Cliffhanger des ersten Teils ist erst einmal vielversprechend. \
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