Man musste fast 70 Jahre lang warten, bis sich ein Romanautor wieder dem bundesrepublikanischen Parlamentswesen und seiner Welt aus Abgeordneten, Büroleitern, Ministern etc. als Protagonisten in einem Roman widmen wollte: 1953 veröffentlichte Wolfgang Koeppen „Das Treibhaus“. Parallelen zu Ulf Erdmanns Zieglers neuem Roman „Eine andere Epoche“ gibt es einige. Dass die maßgebliche Romanfigur SPD-Mitglied bzw. -Abgeordneter ist, aber auch, dass Koeppen sich inhaltlich mit existentiellen Fragen der damals jungen Republik und ihres Parlamentarismus beschäftigte: Wiederbewaffnung, Westanbindung und vor allen Dingen das unbehelligte düstere Weiterwirken der alten Nazis innerhalb von Regierung und Parlament in die neue Demokratie hinein.
Schnitt. Berlin, im Jahre 2011. Durch den Selbstmord der Terroristen Mundlos und Böhnhardt kommen die NSU-Morde ans Licht. Über zehn Jahre hatten die Institutionen die Augen vor der Mordserie geradezu verschlossen und eine Aufklärung des tödlichen Wirkens vom rechten Rand aus ignoriert oder sogar verhindert.
Zieglers zentrale Romanfigur Wegmann Frost ist der Büroleiter des SPD-Parlamentariers Andi Nair. Man kennt sich aus gemeinsamen Jugendtagen im Niedersächsischen. Dritter im Bunde war damals Florian Janssen, heute Vizekanzler in der aktuell regierenden CDU/ FDP-Koalition - unschwer in seiner Darstellung angelehnt an den damals realen Vizekanzler Philipp Rösler (FDP). Der SPD-Parlamentarier Andi Nairruft den NSU-Untersuchungsausschuss ins Leben und übernimmt, über alle Fraktionen hinweg für seine Arbeit hoch gelobt, den Vorsitz. „Eine andere Epoche“ endet schließlich mit einer Enthüllung und dem unmittelbaren Rücktritt von Andi Nair. Dieser wiederum findet in dem damaligen SPD-Abgeordneten und Ausschuss-Vorsitzenden Sebastian Edathy seine Entsprechung, dem damals der Besitz von kinderpornographischen Fotos auf seinem Computer nachgewiesen wurde. Wegmann Frost als unwissender, aber von den hehren Grundsätzen der Sozialdemokratie restlos überzeugter Parlamentsmitarbeiter, wird von diesen Ereignissen und dem Jobverlust aus der Politik in ein anderes, neues, rein privates Leben gespült.
Ulf Erdmann Ziegler hat einen faszinierenden, keineswegs mit politischem Kauderwelsch beschwerten Schlüsselroman geschrieben, der die Innenschau seines Protagonisten mit der Analyse des politischen Milieus verbindet. Wegmann Frost ist (fast) eine tragische Figur, die dem Haken schlagenden Wirken seines Vorgesetzten und seiner Parteigenossen verständnislos gegenübersteht. Ein faszinierender zusätzlicher Spin ist der inhaltlich starke Einbezug der Christian Wulff-Affäre: Der damalige Bundespräsident wurde durch die mächtige Springer-Presse und ihre sezierende Demontage seiner Person zum Rücktritt gezwungen – begleitet und forciert durch die Sympathieverluste bei einer Mehrheit der Bevölkerung. Ein Polit-Krimi, diskutabel über alle Parteigrenzen hinweg, im echten Leben wie in diesem Buch. \ rm
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