Vater Hüseyin hat nach einem harten Arbeitsleben im fiktiven Ort Rheinstadt in Süddeutschland endlich das Frührentenalter erreicht. Für sich, seine Frau und die vier Kinder hat er jeden Cent beiseite gelegt und eine Eigentumswohnung in Istanbul gekauft. Aber wollen seine Kinder überhaupt in die alte Heimat zurück? Jetzt steht er in der leeren Wohnung, ein Teil der neuen Möbel ist geliefert – doch dann wird ihm dieser Altersruhesitz zum Verhängnis.
Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren und arbeitet als Kolumnistin und Redakteurin bei der taz in Berlin. In ihrem ersten, mit mehreren Preisen ausgezeichneten Roman „Ellbogen“ (2017) schilderte sie die Ausweglosigkeit einer jungen Deutschtürkin zwischen unterdrückendem türkischen Patriarchat, dessen überholten Rollenbildern sowie deutscher Gleichgültigkeit und Scheinheiligkeit. „Dschinns“ konzentriert sich auf die tektonischen Verschiebungen innerhalb einer Familie, die elternseits ihre kurdische Herkunft negiert und dennoch den Kindern – zwei Jungen, zwei Mädchen – traditionelle Rollenbilder überzustülpen versucht. Diese Rollenbilder, die Perspektiven und Gedankenwelt der Figuren bedienen einerseits einige Klischees, die Dialoge sind andererseits, aber sehr ambivalent und erfrischend unkonstruiert. Und auch den wachsenden Rassismus in der deutschen Gesellschaft der 90er Jahre, in denen der Roman spielt, verschweigt Aydemir keineswegs – Stichwort: Mölln, Hoyerswerda, Solingen, Rostock …
Den größten Entwicklungssprung macht die älteste, von der Mutter abgelehnte Tochter Sevda, die ohne Bildungschancen, halbherzig und verspätet in die Familie nach Deutschland nachgeholt wird. Sie schafft es, mit zwei kleinen Kindern aus einer arrangierten Ehe auszubrechen und sich eine eigene Existenz mit einem italienischen Restaurant aufzubauen. Auch ihre Schwester Peri, zur eher linken Aktivistin gewandelt, studiert in Frankfurt und geht keinen Konflikten mit ihrer depressiv-herrischen Mutter aus dem Weg, während der ausgebrannte Vater sich mehr und mehr abkapselt und die von ihm erwartete Rolle als Familienoberhaupt nur unzureichend zu verkörpern vermag.
In Rückblicken erzählt Fatma Aydemir diese Geschichte mit großer Stimmenvielfalt. Nach dem Tod des Vaters trifft sich die Familie zur Beerdigung. Aber selbst an diesem wichtigen Tag schaffen es nicht alle rechtzeitig ans Grab. Und auch die neue, eigentlich für ein gemeinsames Leben gedachte Wohnung des Vaters wird nicht zu einem neuen Familienort, sondern bringt schließlich noch verdrängte Geheimnisse ans Licht. \ rm
WEITEREMPFEHLEN