Von Kian Tabatabaei
Ihre Arme liegen auf seinen Schultern, seine Hände auf ihrer Taille. Die beiden knutschen auf einem proppenvollen Podest. Ein Trupp Türsteher nimmt einen Mann in die Mangel. Auf einer Stufe sitzt eine Frau. Ihr Kopf ist in ihren Schoß gefallen. Ein Trio kippt Kurze an der Bar. Und der Diskjockey untermalt das vom Rausch gezeichnete Wimmelbild mit „Danza Kuduro“ von Don Omar und Lucenzo. Die Decken im riesigen Tanzsaal sind mit goldenen Ballons verziert, Scheinwerfer leuchten den Raum mal mehr, mal weniger aus, der Boden klebt. Gegen halb drei hagelt Konfetti auf die Menge, Rauchmaschinen hinterlassen eine Nebelbank: Ekstase. Die Aachener Diskothek Nox an der Blondelstraße zwischen Bushof und Aquis Plaza feiert in dieser Nacht achtjähriges Bestehen, mit ihr viele Hunderte Menschen. Der Großteil ist zwischen 20 und 30 Jahre alt – und betrunken. Seit rund einem halben Jahr gibt es so gut wie keine einschränkenden Corona-Maßnahmen mehr. Wer Clubs wie das Nox besuchen möchte, kann das ungeimpft tun, benötigt keinen negativen Testnachweis und auch keine Schutzmaske. Ein Segen für die Branche, die fast zwei Jahre lang überwiegend lahmgelegt war. „Es hätte uns viel härter treffen können“, sagt Jörg Friedrich, der neben dem Nox auch das Lessie Fair an der Pontstraße betreibt, rund 100 Mitarbeitende beschäftigt und aus seinem Club während Corona ein Testzentrum machte. „Die Hilfsgelder haben nicht alles abgefedert, klar. Aber der deutsche Staat hat wirklich viel für uns getan.“ Das sehen nicht alle seiner Kolleginnen und Kollegen so. Erst kürzlich sorgten die Betreibenden des kleinen „Club Voltaire“ an der Friedrichstraße in Aachen mit einem Facebook-Beitrag, in dem sie das baldige Aus ankündigen und Verspätungen bei der Zahlung von staatlichen Zuschüssen kritisieren, für Aufsehen. Friedrich blickt ohne Argwohn auf die Zwangspause zurück. Sorgenlos ist er aber auch nicht. Das liege weniger am Personalmangel, den das Gastgewerbe und der Unterhaltungssektor beklagen, sondern vielmehr an der Inflation und der Energiekrise. Zwar müssten seine Clubs aufgrund der Wärme, die die Feiernden selbst abgeben, nicht beheizt werden, doch das Geld seines überwiegend studentischen Publikums könnte knapp und ihr Budget für Partys schmal werden, fürchtet der 33-Jährige. Zehn Euro zahlen Gäste in der Regel allein für den Eintritt in das Nox. Hinzu kommt, dass in den kommenden Monaten die Corona-Infektionszahlen laut Experten wieder steigen könnten. Von Oktober bis Ostern sind neue Schutzmaßnahmen möglich, die die Regierung auf den Weg gebracht hat. Je nachdem, wie stark das Gesundheitssystem gefährdet ist, können die Bundesländer demnach strenge Regeln beschließen. Dazu zählt zum Beispiel eine Maskenpflicht in öffentlich zugänglichen Innenräumen oder eine Obergrenze für Veranstaltungen. Auch Testnachweise könnten dann wieder zum Zugangskriterium werden. Die Gesundheit gehe vor, sagt Friedrich. Er stellt aber auch klar: „Wenn es wieder eine Maskenpflicht gibt, werden wir nicht öffnen.“ Von der erwähnten Sparsamkeit fehlt an diesem Freitag, der irgendwann zum Samstag wurde, noch jede Spur. Die Pontstraße mit ihren zahlreichen Bars ist kurz vor Mitternacht gut besucht. Viele sind gekommen, um sich hier mit dem ein oder anderen Getränk auf eine lange Nacht einzustimmen. Zoe und Swantje zum Beispiel. Die beiden 22-jährigen Studentinnen aus Aachen planen, erst ins „Sowiso“ einzukehren und anschließend entweder im Club Apollo oder im genannten Nox zu tanzen, wie sie sagen. Sie würden regelmäßig so verfahren, obwohl sie nicht wirklich angetan sind von den Aachener Diskotheken. „Es läuft immer die gleiche Musik und wir treffen immer dieselben Leute“, sagt Zoe. Begeisterter klingen Ruben und seine fünf Freunde. Die Gruppe aus Heerlen kommt zweimal im Monat nach Aachen. „Bei uns ist nichts los“, sagt Ruben, der wie die meisten seiner Kumpel 17 Jahre alt ist. „Wir gehen erst ins White House und dann ins Nox“. Als Minderjährige? – „Wir sind große Jungs!“ Sein Vater hole sie später ab, sagt der Niederländer. Friedrich wird später betonen, dass es eine Ausweiskontrolle am Eingang seiner Clubs gebe. Rund 20 Fußminuten trennen das Nox und das „Hotel Europa“ an der Südstraße. Keine große Distanz – wenn man in Metern misst. Im unscheinbaren kleinen Club nahe dem Marschiertor trifft sich die sogenannte alternative Szene, wie der 28-jährige Tobias erläutert. Was er damit meint: elektronische statt Chart-Musik, weniger Hemden, weniger Schmuck, weniger Schminke. Die 23-jährige Ella ergänzt: „Hier stehen Tanzen und das Soziale im Vordergrund.“ Und Club-Chef Udo Mays spricht beinahe wie ein Prediger: „Hier herrscht der Geist der Freundlichkeit.“ Wer das „Hotel Europa“ betritt, sucht zunächst einmal die Tanzfläche. Die befindet sich im Keller, zu dem nur eine schmale Treppe aus der Bar im Erdgeschoss führt. Oben ist es überschaubar, unten gibt es gegen 1 Uhr jede Menge Stau, Schweiß und dennoch: gute Laune. Zurück ins Nox und zu einer Feststellung: Zoe und Swantje haben sich gegen das Apollo entschieden. Es ist gegen 3 Uhr und die beiden sprechen mittlerweile mit veränderten Stimmen und sehen mit erschöpften Augen. „Die Männer hier sind heute sehr penetrant“, sagt Zoe. Swantje krempelt ihre Hose hoch und zeigt ein dickes Ei an ihrem Schienbein: „Ich habe mich an einer Stufe gestoßen.“ Dennoch: Die beiden wollen noch zwei Stunden bleiben. Der Alkohol macht es möglich. Der Alkohol macht aber auch Hunger. Deswegen bieten viele Imbiss-Betreiber in Aachen freitags und samstags bis in die frühen Morgenstunden hinein unter anderem Döner, Fritten und Gyros an. Die 22-jährige Nele und ihre 18-jährige Freundin Olivia wissen das zu schätzen. Sie kommen gerade aus dem Musikbunker, wo wie im Hotel Europa überwiegend elektronische Musik läuft. Von der Rehmannstraße im Frankenberger Viertel aus haben sie um kurz vor 4 Uhr noch den Weg zu einer Pizzeria am Adalbertsteinweg gefunden. Sie hätten eine schöne Zeit gehabt, sagen die beiden einstimmig, während sie auf ihr Essen warten. Damit geht die Nacht zu Ende. Für die Knutschenden aus dem Nox könnte hier ein Anfang liegen. Clubvielfalt In den vergangenen Jahren – schon vor Corona – mussten viele Aachener Clubs aus unterschiedlichen Gründen schließen. Seitdem vermissen die Aachener Locations mit einem diversen Angebot für alle Altersgruppen wie den Malteserkeller, das Aoxomoxoa, den Jakobshof, den Westbahnhof oder Tanzpartys in der Bar Museo. Jetzt hat auch noch der Club Voltaire angekündigt zu schließen.
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