Wen interessieren denn noch die 70er? Haben wir nicht unsere eigenen Probleme? Schon. Aber wer genauer hinschaut, wird schnell feststellen, dass einige Kontinuitäten zwischen dem Leben in den „westlichen“ Staaten damals und heute ein halbes Jahrhundert überdauert haben. Zum Beispiel die Angst vor dem drohenden wirtschaftlichen Abschwung und gleichzeitig die Mahnung bezüglich der Grenzen des Wachstums, erstmals prominent geäußert durch den Club of Rome, heute als medialer Dauerbrenner präsent mit Forderungen nach einem „New Deal“. Dazu ist die Rassismusdiskussion, die in den USA der 70er Jahre nur begrenzt von der Bürgerrechtsbewegung vorangebracht wurde, endlich auch in der Mitte der gesellschaftlichen Auseinandersetzung angelangt, auch in Deutschland.
Ernst Hofacker („1967 – Als Pop unsere Welt für immer veränderte“) zeigt in seinem schillernden Panorama „Die 70er – der Sound eines Jahrzehnts“, wie Pop erstmals in weiten Teilen der Gesellschaft Antworten auf alltägliche Probleme lieferte und unser kulturelles Leben bis heute nachhaltig prägte.
Mit einer beeindruckenden anekdotischen Tiefe greift sich der erfahrene Musikjournalist Figuren wie David Bowie, Queen, Nina Hagen, Marvin Gaye, Bee Gees, Carole King oder Bob Marley heraus, um anhand einer jeweiligen Phase ihrer künstlerischen Entwicklung einen Trend in der Popwelt der 1970er aufzuzeigen. Jedes Kapitel widmet sich dabei einem einzelnen Jahr, seinen – im Nachhinein – wichtigsten Alben und Akteuren und beleuchtet nebenher politische Ereignisse und Entwicklungen in der Studiotechnologie, die musikalische Innovation oft erst möglich machte.
Da die BRD, erst recht die DDR, in der sich explosiv entwickelnden Popwelt der 70er nur eine Nebenrolle spielten, findet das Buch vor allem zwischen den Metropolen der USA und London statt. Ein Kapitel widmet sich aber den Koryphäen der frühen elektronischen Musik wie Kraftwerk und Can, die als westdeutscher „Krautrock“ für die Weiterentwicklung der Popmusik in den 80ern und 90ern eine gewichtige Rolle spielten, und stellt daneben auch einzelne Versuche vor, im realexistierenden Sozialismus Popmusik zu machen. Auch Liedermacher wie Hannes Wader oder Udo Lindenberg, die uns bis heute erhalten geblieben sind, haben ihre Wurzeln im Vor-Wende-Deutschland der 70er Jahre.
Aufgrund der großen Bedeutung der US-Popkultur für West- und später Gesamtdeutschland ist Hofackers Chronologie aber erst recht hochinteressant für alle, die den damals gesetzten musikalischen Trends noch etwas abgewinnen können, auch wenn sie diese nicht selbst erlebt haben. Der Autor dieses Textes jedenfalls, 1994 geboren, hatte viel Spaß an Hofackers Geschichtensammlung – und natürlich an den Alben, die uns bis heute geblieben sind und Künstlerinnen und Künstler unserer Zeit wie Tame Impala nachhaltig beeinflusst haben. \ lm
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