1972 ist der Glamrock auch im letzten Winkel der Musikwelt angekommen, der britische Sänger und Musiker hat sein legendäres Album „Hunky Dory“ (1971) hinter sich gelassen und landet mit dem völlig neu aufgestellten Album „The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“ im Jahr 1972 nicht nur seinen kommerziellen Durchbruch. Er führt auch das Alter Ego „Ziggy Stardust“ ein, der Mittelpunkt des Albums und einer aufwändigen und theatralischen Bühnenshow mit (damals) provozierend-offenen homoerotischen Elementen ist. Ohnehin war Bowie damals angetan von der Ästhetik der Travestieshows und der schwulen Avantgarde in der New Yorker Subkultur.
Autor Simon Goddard schreibt hierüber, wie schon in den vorherigen Teilen, keine nüchterne Biografie, die sich an sorgfältig recherchierten Fakten entlanghangelt, sondern zieht den Leser hinein in eine wilde, bunte Vergangenheit, geschwängert von Dope- und Patschuli-Aromen, behangen mit Seidentüchern und neuen Kategorisierungen zeitgenössischer Musik, die von „Queer-Rock“, über „Schwulen-Rock“ bis „Camp Rock“ reichen.
Goddard schafft es meisterlich, die Grenzen zwischen Roman und Biografie verschwimmen zu lassen. Mit einem lässigen Erzählstil, der sich auch bei der Wortwahl dem zu beschreibenden Jahrzehnt unterordnet, erweckt er die Welt rund um den David Bowie des Jahres 1972 wieder zum Leben. Und da ist nicht nur David selbst, da sind auch Marc Bolan und T.Rex, Mott The Hoople und Iggy Pop, da ist Stanley Kubrick mit seinem „Clockwork Orange“, aber auch streikende Bergleute und Premierminister Edward Heath, der ihnen keinen gerechten Lohn und sichere Arbeitsbedingungen zusichern will. Ein turbulenter Pop-Kultur-Roman, der sich trotzdem an wahren Begebenheiten orientiert, in deren Mitte immer die verletzliche, wandelbare und stets faszinierende Heldenfigur Bowie, die im manischen Erzählfluss von Goddard als Hauptakteur manchmal beinahe unter die Räder zu kommen scheint, weil der Autor derart viele Eindrücke des Jahres 1972 zu konservieren versucht. Dabei liefert Bowie selbst genug Action ab, u.a. als er für ein Elvis-Konzert mitten in seiner Tour kurzerhand in die USA jettet: „Alles ändert sich. Innerhalb von 24 Stunden, während ein blutunterlaufenes Auge zwinkert und ein Düsentriebwerk aufheult. In der einen Minute steht David auf der Bühne und schaut ins halbleere Gemeindehaus von Middelsbrough, in der nächsten sitzt er in einer Limousine mit Chauffeur und starrt auf dem Weg zu einem Elvis-Presley-Konzert auf die sich nähernde Skyline von Manhattan. Passiert das wirklich?“ Klaas Tigchelaar
Simon Goddard: „Bowie Odyssee 72“.
Übersetzt von Andreas Schiffmann.
Hannibal Verlag 2023, Broschur, 200 Seiten, 20 Euro
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