Wenn durch einen Notfall von einer Sekunde zur anderen alles anders ist, leistet die Notfallseelsorge Aachen – ein Angebot des Evangelischen Kirchenkreises Aachen und des Katholischen Bistums Aachen – für Betroffene, Angehörige, Augenzeugen und Einsatzkräfte wortwörtlich „Erste Hilfe für die Seele“. Da die Realität oft anders aussieht als im Film, wenn die Polizei anklopft und den Angehörigen lapidar eine Todesnachricht aufgrund eines Unfalls oder einer Gewalttat überbringt, ist eine empathische Kommunikation erforderlich. Die Frauen und Männer mit den lila Westen begleiten die Polizei beim Überbringen von Todesnachrichten, um die überforderten Angehörigen zu unterstützen, die Situation zu sortieren und weitere Hilfe aus dem persönlichen Umfeld zu organisieren.
„Erste Hilfe für die Seele“
Dabei nehmen sie sich Zeit, haben ein offenes Ohr und unterliegen dem Seelsorgegeheimnis. Rita Nagel war bis zu ihrer Pensionierung Gemeindereferentin, seit 24 Jahren ist sie zudem als Seelsorgerin tätig, im Jahr 2014 übernahm sie die Leitung der Notfallseelsorge für die Städteregion. Auch, wenn sie sich – wie wahrscheinlich alle ihrer Kolleginnen und Kollegen – noch an ihren ersten Einsatz erinnern kann, wählt sie beim Erzählen die „Großschadenslage“ des Hochwassers 2021 und den großen Polizeieinsatz im Luisenhospital im März 2024 als Beispiele. Einerseits lässt sich damit nachvollziehen, wie die Organisation der Notfallseelsorge funktioniert, andererseits wird so die Diskretion der persönlichen Schicksale gewahrt.
Bei der Flut war das Team über vier Wochen mit rund 38 Leuten im Einsatz, sie waren jeden Tag vor Ort und erhielten Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen der Telefonseelsorge und anderer Einrichtungen für Krisenmanagement. „Am Anfang war die Sprachlosigkeit groß, als Erstes war praktische Hilfe und Schippen angesagt, erst später kamen die Gefühle hoch. Wir haben die Ausgabestellen besetzt und regelrechtes Streetworking gemacht. Erkennbar an unseren lila Jacken konnten wir angesprochen werden und haben die Menschen auch aktiv angesprochen.“
Neben den hauptamtlichen Kräften der Kirchen gehören 53 ehrenamtlich Mitarbeitende zum Team. 1999 gegründet, sind seit 2014 Ehrenamtliche im Einsatz, seit diesem Jahr müssen die Interessenten nicht mehr der katholischen oder evangelischen Kirche angehören, sie sollten aber christlichen Werten verpflichtet sein.
Denn die Seelsorge in Notfällen ist so alt wie die Kirche selbst, es gehörte schon immer zu den Aufgaben der Kirche, Menschen beizustehen, die in eine plötzliche Notsituation gerieten. Organisiert wird die Notfallseelsorge, die 24/7 Unterstützung gewährleistet, per Bereitschaftsdienst. Nach einer zehnmonatigen Ausbildung samt Supervision können die Ehrenamtlichen über Onlinepläne ihren Bereitschaftsdienst frei wählen, sodass er auch zur jeweiligen Lebenssituation passt. Aktuell absolvieren 15 Menschen den Kurs, die Teams bestehen überwiegend aus Frauen, etwa ein Drittel der Seelsorger sind Männer.
Als Menschen für Menschen da sein
Dass der Begriff der Seele beispielsweise im Islam noch in der Diskussion sei, mache die Seelsorge in diesem Kontext zwar schwieriger, aber laut Rita Nagel geht die Notfallseelsorge auch zu muslimischen Familien: „Wir sind dann einfach als Mensch für Menschen da“, sagt sie und erklärt, dass die Unterstützung zumeist positiv angenommen werde, in mehr als 20 Dienstjahren sei ihr Angebot nur zweimal abgelehnt worden. „Oft höre ich von den Angehörigen, dass sie gar nicht wussten, dass die Kirche so was macht“, führt sie aus. „Die Frage nach dem ‚Warum‘ können wir nicht beantworten, die kann eigentlich niemand beantworten. Aber wir stehen den Betroffenen so lange zur Seite, bis das eigene soziale Netz greift.“
Die richtige Einschätzung, wann Schweigen und wann Reden angebracht sei, gehört zu den wichtigsten Aufgaben: „Wir kümmern uns um die Stillen in der Ecke, denn die Lauten können ihrer Trauer meist besser Ausdruck verleihen“, sagt Nagel und führt fort: „Gerade bei alten oder demenziell erkrankten Menschen ist es kompliziert. Ich hinterlasse einen verzweifelten Menschen, da stelle ich mir schon die Frage, wer nach ihnen schaut, wenn wir weg sind? Damit meine ich keine medizinische Pflege, sondern eher soziale Unterstützung“.
In der Eifel funktionierten in solchen Fällen die Pfarrgemeinden, in der Stadt sei das schwieriger. Auch wenn es einzelne Projekte wie „Gregor hilft“ in Burtscheid oder „Senioren helfen Senioren“ in Brand gäbe, fehle oft die psychosoziale Begleitung. Vielleicht sei das niederländische Modell der Gemeindeschwester als erster Ansprechpartnerin für ältere Menschen, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ein Vorbild. Denn trotz aller Netzwerkarbeit und bewährter Kooperation mit Rettungsdiensten, Polizei und anderen Hilfsorganisationen gibt es noch keine grenzüberschreitende Arbeit, Rita Nagel kennt keine vergleichbaren Institutionen zur Notfallseelsorge in den Nachbarländern. In Belgien wird beispielsweise ein Pfarrer von der Polizei gerufen, wenn eine schlechte Nachricht zu überbringen ist. Vielleicht ein sinnvolles – und förderwürdiges – euregionales Projekt für die Zukunft? Da Notsituationen oft mit erschreckendem Leid verbunden sind, stellt sich die Frage, wie die Notfallseelsorger mit dem Erlebten umgehen und wer sie auffängt?
Rita Nagel verweist auf ein gestaffeltes System, das beim kollegialen Austausch bei der Dienstwagenübergabe nach der Schicht beginne und über die monatliche Gruppensupervision mit Fallbesprechungen bis zur Einzelsupervision führe. Außerdem hätten die Meisten ein individuelles Ritual, um mit der Situation umzugehen, beispielsweise das Anzünden einer Kerze. „Von dem Toten gehe ich nach meinem Glaubensverständnis davon aus, dass es ihm jetzt gut geht, aber die Angehörigen müssen mit dem Tod leben, deshalb widme ich ihnen meine Aufmerksamkeit“, sagt sie und lächelt, für sie ist ihre Tätigkeit ein Geben und Nehmen: „Es ist ein tief befriedigendes Gefühl, dass man etwas Sinnvolles getan hat“.
Bei der Frage nach ihrem wichtigsten Wunsch, muss Rita Nagel nicht lange überlegen: „Ich wünsche mir eine kompetente Nachfolge, wenn ich in etwa zwei Jahren auch mit der Notfallseelsorge in Ruhestand gehe“.
Notfallseelsorge für die Städteregion
Die Notfallseelsorge ist über die Leitstelle der Feuerwehr unter der Rufrufnummer 112 erreichbar und arbeitet als Teil der psychosozialen Notfallversorgung in der Städteregion Aachen mit der Telefonseelsorge Aachen-Eifel e.V. zusammen.
Notfallseelsorge Aachen
Frère-Roger-Straße 8-10, 52066 Aachen
notfallseelsorge-aachen.de
Notfallseelsorge für den Kreis Heinsberg und Düren
bistum-aachen.de/Seelsorge/nfs-heinsberg
bistum-aachen.de/Seelsorge/nfs-dueren
Telefon-Seelsorge Aachen-Eifel
Über 85 ehrenamtliche und qualifiziert ausgebildete Mitarbeitende stehen am Telefon, per Mail oder im Chat bereit, sie hören zu und geben Anregungen für eigene Lösungen
telefonseelsorge-aachen.de
Tel: 0800-1110111 oder 0800-1110222 (kostenfrei).
Besondere Seelsorge im Bistum Aachen
bistum-aachen.de/Seelsorge
bistum-aachen.de/Seelsorge/Internetseelsorge
Seelsorgeruf Aachen (Nachfolge des Priesternotrufs)
Online-Buchung von kostenlosen Seelsorge-Gesprächen per Telefon, Video-Chat, im Innenraum oder bei einem Spaziergang
Erreichbar über die Zentrale des Marienhospitals:
Tel: 0241-600 60
kirchenkreis-aachen.de/arbeitsfelder/seelsorge/seelsorgenetzwerk-aachen
Trauerprojekte für Kinder und Jugendliche
diesseits:
diesseits-aachen.de
Kinder- und Jugendtrauerprojekt Phönix, Alsdorf:
trauernetzwerk-alsdorf.de
Trauerarbeit mit Kindern Bestattungen Schinkenmeyer:
bestattungen-schinkenmeyer.de
Opferschutz der Polizei:
Die Notfallseelsorge der Städteregion steht durch die enge Zusammenarbeit mit dem Opferschutz der Polizei für Ersthelfer und Zeugen auch im Nachhinein zur Verfügung
aachen.polizei.nrw/artikel/opferschutz-7
WEITEREMPFEHLEN