Mittwochvormittag, am Aachener Hauptbahnhof herrscht das übliche hektische Treiben, knarzende Lautsprecherdurchsagen geben Zugausfälle, Gleiswechsel und Verspätungen bekannt. Auf Schildern wird der Weg zur Bahnhofmission auf Gleis 1 gewiesen. Dort, im markanten weißverputzten Häuschen mit seinen Ecken aus kantigem Bruchstein, steht in der Mitte des hellen Gastraums eine große Kaffeekanne auf dem Tisch. „Kaffee ist hier fast das Wichtigste“, sagt Elke Schreiber und lacht. Für sie sind ein Lächeln, Kaffee und Tee der Schlüssel, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.
Unabhängig von Nationalität, sozialer Herkunft oder Religion, ohne Anmeldung und Kosten gibt es hier Hilfe, in nahezu jeder Lebenslage. „Wir helfen überall und sofort“, beschreibt die diplomierte Sozialarbeiterin und Diakonin das Alleinstellungsmerkmal der Bahnhofsmission, die sich als einzige soziale Einrichtung am Bedarf vor Ort orientiert. Beispielsweise mit Reisehilfe oder -begleitung, der Vermittlung in Hilfseinrichtungen oder Selbsthilfegruppen, mit Drogenberatung und Seelsorge – oder wie Elke Schreiber es ausdrückt: „Wir bieten eine heiße Tasse Kaffee, einen Keks oder ein Butterbrot und stehen für Gespräche jeglicher Art bereit – oder hören auch einfach mal zu.“ Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Berlin die erste Bahnhofsmission gegründet, um Frauen und Mädchen bei ihrer Einreise in die Großstadt Schutz vor Ausbeutung und Missbrauch zu bieten, schnell wurden Bahnhofsmissionen auch in anderen Städten zu Knotenpunkten der sozialen Hilfe. Nach dem 1.Weltkrieg kümmerte man sich um zurückkehrende Soldaten, Flüchtlinge und Auswanderer, während der Rezession wurde die notleidende Bevölkerung unterstützt. 1945 kehrten die überwiegend weiblichen Mitarbeiterinnen der Vorkriegszeit zurück zu ihrem Dienst auf die zerstörten Bahnhöfe, auf denen viele Menschen unterwegs waren, Familienmitglieder einander suchten, Heimkehrer aus dem Krieg, Vertriebene und Flüchtlinge die Hilfe in Anspruch nahmen.
Ab 1949 begann die Hilfe für Interzonen-Reisende und in den 1960er Jahren kamen ausländische Arbeitnehmer als Gastarbeiter in die BRD, für die die Bahnhofsmissionen erste Anlaufstationen wurden, besonders wenn die Ämter geschlossen waren. Im Zuge der Privatisierung der Deutschen Bundesbahn in den 1990er Jahren waren Bahnhöfe nicht mehr allein Verkehrsknotenpunkte, sie wurden sukzessive zu Orten des Konsums. Die Bahnhofsmission reagierte auf diese Entwicklung mit qualifizierten Ein- und Umsteigediensten sowie mobilen Reisebegleitungen. Seither wird die Bahnhofsmission zunehmend von Menschen als Schutzraum in Anspruch genommen, die dauerhafte Ausgrenzungserfahrungen machen und oft von anderen Hilfeeinrichtungen nicht mehr erreicht werden. „Es gibt eine enge Zusammenarbeit aller Institutionen, die Wohnungslosen helfen“, sagt Elke Schreiber: „In Aachen und der Städteregion gibt es vielfältige Angebote, sofern die Menschen diese Hilfen annehmen, können sie umfassend versorgt werden. Aber wir müssen auch respektieren, wenn Menschen nicht in einer Wohnung leben können oder möchten, und Hilfen ablehnen.“ Die Besucher der Aufwärmstube sind mitunter harte Fälle, denen Schreiber und ihr Team mit kleinen Gesten Unterstützung und Anerkennung bieten: „Wir siezen unsere Besucher, das ist eine Form des Respekts, der ihnen mitunter schon lange nicht mehr zuteilwurde“, so Schreiber. Auch wenn der Anteil der Gäste mit extrem psychischen Erkrankungen kontinuierlich steigt und die wachsende Zahl von Gästen mit Migrationshintergrund die zunehmende Internationalisierung von Armut und Ausgrenzung aufzeigt, bleibt Elke Schreiber zuversichtlich: „Wir haben ein großartiges Team von Ehrenamtlichen, der Jüngste ist gerade einmal 19, die älteste Ehrenamtliche 84 Jahre alt. Die Bereitschaft der Aachenerinnen und Aachener zu helfen ist sensationell. Es läuft genial, auch wenn wir natürlich noch mehr Menschen brauchen, um den steigenden Anforderungen gerecht zu werden.“ Aktuell sind täglich zwei bis vier Ehrenamtliche und Mitarbeitende mit ihren blauen Westen im Wechsel an den Bahnsteigen im und um den Bahnhof herum unterwegs.
Mindestens 32.000 Hilfestellungen verzeichnet das Team der Bahnhofsmission jährlich. Sie reichen vom Annähen eines Knopfes vor einem Vorstellungsgespräch, über Reiseauskünfte in verschiedenen Sprachen und die Zusammenführung von während der Reise getrennten Familien bis zur Begleitung von gehandicapten Reisenden, was momentan einen Großteil der Unterstützung ausmacht, da wegen Bauarbeiten einige Aufzüge nicht in Betrieb sind. „Für mich als evangelische Diakonin und Sozialarbeiterin ist die Arbeit bei der Bahnhofsmission Berufung, ich kann mein christliches Dasein ohne Dogma leben, denn für mich steht immer der Mensch, das Leben und die Menschenwürde im Vordergrund.“
Der Bahnhof mutet an wie eine Stadt in einer Stadt, täglich nutzen rund 43.000 Personen den Aachener Hauptbahnhof. Bundesweit gibt es 124 Bahnhofsmissionen, was die Möglichkeit gibt, als eine Art gesellschaftlicher Seismograph, soziale Prozesse zu kommunizieren. Inzwischen haben auch die 22-jährige Felicia und die 76-jährige Marlies ihren Dienst angetreten, sie besprechen bei einem Kaffee den weiteren Tagesablauf, als ein junger Mann den Raum betritt. Er stellt sich höflich vor und erzählt, dass er gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde und nicht so richtig wisse, was er jetzt tun solle. Während Marlies ihm einen Kaffee anbietet und sich zu ihm an den Tisch setzt, bereitet Felicia in der kleinen Küche eine Suppe zu. Erste Hilfe geht mitunter zunächst einmal durch den Magen. Nach dem Tod ihres Mannes vor mehr als 20 Jahren hat sich Marlies verschiedene ehrenamtliche Institutionen angeschaut und ist schließlich bei der Bahnhofsmission gelandet, wo ihr besonders das Miteinander von jungen und älteren Menschen gefällt, wie sie lächelnd erklärt. Sie kennt den Gast, er war bereits vor einigen Jahren schon einmal hier, mit ihrer ruhigen und sanften Art ermutigt sie ihn, seine Sorgen von der Seele zu reden und den Neuanfang mit Unterstützung anzugehen. Marlies war auch schon im Frauengefängnis in Köln-Ossendorf, hat hier Besucherinnen der Bahnhofsmission kontaktiert und hat weitere Bahnhofsmissions-Bekannte in der Aachener Justizvollzugsanstalt besucht.
Oft ist sie auch an Feiertagen im Einsatz, was einst an einem Weihnachtsabend in einer schwierigen Situation mit einem psychisch Kranken endete, der von der Polizei abgeführt werden musste. Als die rührige Rentnerin nach Feierabend am Bahnhof inmitten von Blaulicht abgeholt wurde, kommentierte ihre Bekannte das mit dem Ausspruch: „Meine Güte, Marlies, bei Dir ist ja immer was los!“
Heute teilt sie sich die Schicht mit der aus Salzburg stammenden Studentin Felicia, die einen Aushang im Bahnhof sah, dass weitere Ehrenamtliche gesucht werden. Da sie gerade ihre Bachelorarbeit schreibt, kann sie an einigen Nachmittagen und Wochenenden aushelfen. Ihre Fremdsprachenkenntnisse sind dabei ebenso von Vorteil wie ihre empathisch aufgeschlossene Art. Auch sie schätzt die Arbeit und den Austausch im gemischten Team, was sie gerade für Studierende, die neu in der Stadt sind, als gute Möglichkeit sieht, Kontakte zu knüpfen und ein soziales Netzwerk aufzubauen. „Bei uns engagieren sich Menschen, die anpacken und machen – das ist extrem befriedigend und erfüllend“, sagt Elke Schreiber. Der Mikrokosmos Bahnhof gibt einen Einblick ins Leben, den man sonst nicht bekommt. Dann erzählt sie von Herrn M., einem Besucher, der durch seine ruppige Art als eine Art „Test“ für alle Ehrenamtlichen galt. Mit P. habe sie „Mensch ärgere Dich nicht“ gespielt, um ihn aus seinem Gedankenkarussell zu holen. Herr T. machte das Angebot: „Elke, ich bring‘ Dich zum Bus, dat is’n heißes Pflaster hier.“ Sein tragisches Schicksal, bei einem von der Vermieterin gelegten Hausbrand ums Leben gekommen zu sein, hat das Team der Bahnhofsmission nicht kaltgelassen, sie waren geschlossen bei seiner Beerdigung. „Wir sind wie eine große Familie, vor allem für die, die keine Familie und Freunde haben“, ergänzt Marlies und verweist auf den ökumenischen Gottesdienst in St. Foillan am 6. November für verstorbene Obdachlose und Bedürftige.
In schwierigen Situationen immer das Positive zu sehen und Hoffnung zu machen ist nicht einfach, unter dem Motto „Gemeinsam sind wir stark!“ ist die Bahnhofsmission eine weltoffene religionsübergreifende Anlaufstelle, in der die Mitarbeitenden zur Stelle sind, wenn das Leben entgleist. Nach Möglichkeiten der Unterstützung gefragt, verweist Elke Schreiber auf die gute Zusammenarbeit der Wabe, über die beispielsweise Schlafsäcke und Isomatten gesammelt und an die Bahnhofsmission gegeben werden, diese seien in der kalten Jahreszeit überlebenswichtig, dort im Sozialkaufhaus, könne man gerne Sachspenden abgeben. „Klar, Geldspenden sind immer wichtig, aber letztlich können wir unser Angebot nur mit weiteren Ehrenamtlichen aufrechterhalten. Wir freuen uns, wenn sich noch ein paar jüngere Menschen und gerne auch jüdische und muslimische Menschen mit einbringen würden. Alle, die den Menschen zugewandt sind, denn gemeinsam können wir so viel bewirken.“ Info 1894 Eröffnung der ersten Bahnhofsmission in Berlin – mit dem Ziel reisenden Frauen und Mädchen Schutz vor Ausbeutung und Missbrauch zu bieten 1901 Gründung Aachener Bahnhofsmission (noch vor dem Bau des Hauptbahnhofs)Heute in Trägerschaft der Wabe e.V. und von in via betrieben. Im Notfall kann 24/7 über die Bundespolizei Hilfe angefordert werden. Die Bahnhofsmission Aachen ist täglich von 9 bis 16.30 Uhr besetzt, der Aufenthaltsraum von 12 bis 16 Uhr geöffnet. Reisebegleitungen benötigen einen Vorlauf von 3 Tagen. Bahnhofmission Bahnhofsplatz, Bahnsteig 1 www.invia-aachen.de
Bahnhofsmission Aachen
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