Der neue Roman „Bruder und Schwester Lenobel“ von Michael Köhlmeier ist in erster Linie ein Beziehungsroman um das Scheitern einer langen Ehe. Doch es geht auch um andere Dinge – die tief ausgelotete Konstellation eines Geschwisterpaares, der Frau des Bruders sowie des Schriftstellers Sebastian Lukasser, gemeinsamer Freund von Bruder und Schwester, die alle vielfältig miteinander verstrickt, die Handlung der Geschichte in Rückblicken erzählen. Robert Lenobel, Psychoanalytiker, Jude, in Wien lebend (damit treibt Köhlmeier allerdings seine geschaffene Versuchsanordnung auf eine etwas klischeehafte Spitze), sowie die jüngere Schwester Jetti, die Schönste ihres Jahrgangs, selbständig und erfolgreich in Irland, ihre seelische Zerissenheit in oft nebeneinander laufenden Affären auslebend.
Jetti entstehen erste Zweifel an dem Wohlbefinden des tief geliebten Bruders, als ihre Schwägerin das Verschwinden desselben meldet und sie bittet, als Trösterin zu ihr nach Wien zu kommen. Die gemeinsame Sorge – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – schweißt die Frauen anfänglich zusammen, bis schließlich Brüche entstehen; Vorwürfe, Neid, nicht ausgelebte Sehnsüchte und irrationale Handlungen treiben sie wieder auseinander. Derweil ist Dr. Robert Lenobel mit kurzen Textnachrichten an Schwester und Sebastian, nicht jedoch an seine Frau, unter den Lebenden, aber weit weg in Jerusalem. Sein abruptes Verschwinden bringt Jetti und den gemeinsamen Freund dazu, sich gegenseitig eine andere Wahrheit und Wissen um den Bruder zu erzählen und sich auch sonst näherzukommen.
Das Leben des Psychoanalytikers und das parallel verlaufende seiner bindungsunfähigen Schwester gewinnt in vielen Rückblenden an Schärfe und Klarheit. Robert Lenobel hatte einen richtigen Schlamassel in seine Beziehungen gebracht. Er betrog seine Frau mit einer Affäre, die er aus lauter Ich-Bezogenheit persönlich verletzt wieder beendet. Eine fixe Idee, ein essayistisch-philosophisches Werk zu schreiben, sowie die schreckliche Erkenntnis, dass er seine Frau nie geliebt hat, trotz der beiden mittlerweile zwei erwachsenen Kinder, treibt ihn in eine Auszeit nach Jerusalem.
Köhlmeier als erfahrener psychologisch geschulter Erzähler, weiß um die Bedeutung einer Geschichte über eine Familie mit jüdischen Wurzeln. Angefangen von der als Kind zur Rettung nach England verschifften Mutter, die die eigenen Eltern nie mehr wiedersieht, das Aufwachsen von Robert und Jetti mit eben dieser zunehmend an Depression erkrankten Frau, bis hin zu dem die Familie früh verlassenden Vater, der in einer Parallelfamilie lebend, ein paar Jahre die Fassade aufrecht erhält – das sind nicht wenige Nackenschläge, die das Geschwisterpaar ganz unterschiedlich aushält und verarbeitet. \ rm
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