Vor acht Jahren hat der Schriftsteller Eugen Ruge mit dem Roman „In Zeiten abnehmenden Lichts“ einen Familienroman geschrieben, der prompt den Deutschen Buchpreis gewann und mit Bruno Ganz verfilmt wurde. Auch für „Metropol“ ist Ruge wieder tief in seine Familiengeschichte eingetaucht, die so viel an spannender Ost/West-Thematik abwirft, dass man nur staunen kann.
Die Geschichte seiner Großmutter Charlotte (Ruge) und ihres Lebenspartners Hans (Baumgarten) spielt zwischen September 1936 und Januar 1938. Er, überzeugter Kommunist, und sie, mit zwei Kindern eines anderen Mannes aus Nazi-Deutschland entflohen, arbeiten in Moskau für die OMS, die „Abteilung für internationale Verbindungen“, die in Gemeinschaft mit vielen Nichtrussen die Weltrevolution im Sinne Lenins mit verdeckten Operationen und Spionage vorantreiben soll. Ihre Tarnnamen lauten Wilhelm und Charlotte Germaine. Nach einem bewilligten Sonderurlaub auf der Krim passiert das für das Paar Unfassbare. Ein mit ihnen gut bekannter Professor wird wegen Hochverrats verhaftet. Es ist der Beginn der berühmten Schauprozesse Stalins, die als trotzkistische Verschwörung rechtfertigt werden. Charlotte und Wilhelm werden ohne Angabe von Gründen von der OMS suspendiert und im Luxushotel Metropol einquartiert, wo sich nach und nach die gesamte OMS-Abteilung wiederfindet. Man sitzt im Speisesaal an getrennten Tischen – die Angst vor Kollaborationsverdacht isoliert alle völlig. Eine Person nach der anderen wird in der Nacht abgeholt und in den meisten Fällen später liquidiert.
Der Roman basiert auf vielen geschichtsrelevanten Fakten aus den Archiven des Kreml, die Ruge einzig in den Dialogen und Gedanken seiner Protagonisten imaginiert. Er schildert die bleierne und angstbesetzte anderthalbjährige Zeit, in der niemandem erklärt wird, warum man ins Visier von Stalins Schergen geraten ist.
Ruge schafft neben der Ich-Erzählerin Charlotte zwei weitere Hauptfiguren, die den Roman glänzend ergänzen. Vor allem ist es der Vorsitzende Richter der Moskauer Schauprozesse, Wassili Wassiljewitsch Ulrich, der als feiger und verunsicherter Mensch alleine mehr als 30.000 Todesurteile wie am Fließband unterschreibt. Auch er wohnt mit seiner ständig nörgelnden Frau im Metropol. Der berühmte Schriftsteller und leichtgläubige Prozessbeobachter Lion Feuchtwanger residiert für kurze Zeit im Nebenzimmer von Charlotte und Wilhelm auf der vierten Etage.
Erwin Ruges Großmutter hat nie von ihrer Moskauer Zeit erzählt. Zu tief saßen wohl die Traumata. Beide kamen letztendlich mit dem Leben davon. Sie erhielten Schweizer Pässe und ein Visum für Frankreich. Zur weiteren Flucht aus dem nazi-besetzten Europa schafften sie es auf ein Schiff nach Mexiko.
Sein Buch habe der Stalinismus-Forschung nichts hinzufügen, schreibt Ruge im Epilog, aber dass er es ein zweites Mal geschafft hat, einen packenden Roman dieser Zeitepoche zu schreiben … Chapeau! \ rm
Eugen Ruge:
„Metropol“
Rowohlt
432 Seiten
24 Euro
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