Brandon (Michael Fassbender) braucht Sex wie andere Kokain oder Alkohol. Täglich und in steigender Dosis. Sein ganzes Leben dreht sich darum, wo er sich den nächsten sexuellen Kick holt: mit einem schnellen Flirt an der Bar oder einer Prostituierten, auf einer Pornoseite im Internet oder dem hastigen Masturbieren auf der Bürotoilette. Erfolgreich im Beruf, lebt der attraktive Mittdreißiger nach außen das moderne Ideal urbaner Unabhängigkeit. Das geschmackvoll eingerichtete Apartement gibt durch seine großzügigen Fenster den Blick frei auf die Straßenschluchten Manhattans, wo das Leben rund um die Uhr pulsiert und alles jederzeit verfügbar ist. Aber Brandons von der eigenen Sucht strukturierte Existenz wird empfindlich gestört, als seine jüngere Schwester bei ihm auftaucht. Sissy (Carey Mulligan) ist Sängerin, für ein paar Wochen in der Stadt und quartiert sich kurzerhand bei ihrem Bruder ein. Die Geschwister könnten gegensätzlicher kaum sein: Brandon frisst alles in sich hinein, Sissy lässt alles heraus. Dass beide eine schmerzhafte familiäre Vergangenheit teilen, wird nicht konkretisiert, aber man ahnt es, wenn Sissy in der Bar die sterbensschöntraurigste Version von „New York, New York“ singt und Brandon eine einsame Träne aus dem Auge tritt. Bei aller gegensätzlichen Seelenverwandtschaft können die beiden einander nicht helfen. Jeder steuert für sich auf seinen eigenen Abgrund zu. Der britische Künstler und Filmemacher Steve McQueen, der 2008 mit „Hunger“ über den Hungerstreik des IRA-Häftlings Bobby Sands ein eindringliches und radikales Filmdebüt vorgelegt hat, blickt schonungslos und ohne therapeutische Erklärungsmuster auf die Verhaltensmechanismen des Sexsüchtigen, die sich kaum von denen eines Drogenabhängigen unterscheiden. Auch hier verwandelt sich genussvolles Begehren in vollkommene Abhängigkeit, wird die Dosis ständig erhöht, bis sich das ganze Leben allein nach der Sucht ausrichtet. Der hervorragende Michael Fassbender („Jane Eyre“) spielt den Süchtigen angstfrei und ohne Tour-de-Force-Gehabe. In seinen Augen lässt er dabei immer wieder die dröhnende seelische Leere seiner Figur durchscheinen, die vor sich selbst auf der Flucht zu sein scheint. Eingebettet wird die präzise Charakterstudie in ein klar strukturiertes, visuelles Konzept, das in kühlen Farben die urbane Modernität ins Bild fasst und Brandons Sucht als ebenso groteske wie logische Konsequenz des individualistischen Zeitgeists erscheinen lässt. /// Martin Schwickert
„Shame“
GB 2011 // R: Steve McQueen
Start: 1.3.
Bewertung der redaktion
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