Schmuddelig sieht Woyzeck aus. Mit wirrem Haar, bleichem Gesicht, zerbeulter Kleidung und weit aufgerissenen, fast panischen Augen. Da steht er auf der Bühne, die wie eine riesige schräge dunkle Speerspitze in den Publikumsbereich ragt, und verliert nach und nach die Nerven, die Selbstachtung und die Kontrolle.
Franz Woyzeck hat es im Leben nicht leicht. Um seine Geliebte Marie mitsamt unehelichem Kind durchzubringen, nimmt er an einer dubiosen Versuchsreihe des Dorfdoktors teil. Und während er die bitteren Pillen einschmeißt, vergnügt sich seine Liebste mit dem Tambourmajor.
Woyzecks Welt ist eine bunte Mischung aus irren Freaks, die aus verschiedenen Bodenklappen schießen und ihm gezielt das Leben zu Hölle machen.
Überhaupt scheint sein Untergang eine schwer verständliche Verkettung von unglücklichen Umständen zu sein, die schließlich darin gipfelt, dass er seine Geliebte Marie tötet.
Permanent fragt man sich als Zuschauer, was da auf der Bühne überhaupt passiert. Und warum. So jagt Bettina Scheuritzel als Margreth in Hausfrauenmontur über die Bühne, schwingt dabei den Lockenstab und weist das Publikum patzig auf die Benimmregeln im Theater hin.
Karsten Meyer, als Hauptmann mit Beinschiene, Bademantel und Uralt-Krücke, lässt sich erst von Woyzeck wickeln und schießt dann mit seiner Gehhilfe vollkommen durchgedreht durch die Gegend als sei sie eine Maschinenpistole.
Elke Borkenstein turnt als durchgeknallter Doktor in weißem Kittel und Gummistiefel über die Bühne, zieht überdrehte Grimassen, macht plötzlich Yoga, springt und hüpft dann wieder, zittert wie unter Strom, wirft sich auf den Boden. Dabei glaubt man kaum, dass der Doktor gefährliche Experimente mit Woyzeck anstellt, spielt Borkenstein doch eher eine arme Irre, die an einen Superschurken aus einem Disneyfilm erinnert.
Bennedikt Vollmey erinnert an einen Popstar aus den 80er Jahren und verkörpert die Rolle des Herrn Tambourmajor, der Marie mit einem Fingerschnipp aufreißt und mit ihr feucht-fröhliche Szenen hinter einer riesigen Gardine zum Besten gibt, authentisch und überzeugend. Marie, gespielt von Nadine Kiesewalter – diesmal mit schwarzer Lockenmähne und in aufreizendem schwarz-roten Lackkostümchen – stelzt höchst aufreizend und immer mit Kinderwagen über die Bühne und findet sich plötzlich inmitten einer Horde schreiender Babys wieder, die das restliche Ensemble lauthals schreiend aus den verschiedenen Bodenluken hält.
Vollkommen absurd wird es allerdings, als eine Leiter aus einer der Bodenluke gefahren, in völliger Stille ein Regenschirm am anderen Ende montiert wird und Karl (Felix Strüven) mit Pappschild und Getthoblaster bewaffnet versucht, Stimmen aus dem Jenseits oder sonst wo zu empfangen.
Bei alle dem Durcheinander, das in der Tat an eine große Freakshow erinnert, ist es also kein Wunder, das Woyzeck die Fassung verliert. Philipp Manuel Rothkopf, der in fast jeder Szene auf der Bühne steht und seine Rolle wirklich gut macht, führt das Publikum ein wenig durch den Abend, spricht die Zuschauer an, vermittelt das Gefühl von echtem Zirkus. Eindrucksvoll eröffnet er den Gauklerabend mit einer interessanten Interpretation von Tom Waits Song „Misery is the River of the World“, währenddessen alle Schauspieler sich in den Gesang einbringen und sich das Theater in eine kleine Broadway-Bühne verwandelt.
Musikalisch werden die Schauspieler perfekt begleitet von einer sechsköpfigen Combo mit Namen „Fanfare Tinnitusz“.
Hut ab ebenfalls für die Kostüme und Masken von Tanja Kramberger. Mit der Mischung aus altem Militärlook, schloddrigem Zirkusflair und anstößigem Leder-Lackmix, hat sie die düstere Stimmung perfekt eingefangen. Felix Strüven sieht aus wie der leibhaftige Tod, der wie ein stilles, langsames Wiesel vollkommen bleich, mit tiefblau unterlaufenen Augen und wenig Haaren über die Bühne gleitet; hier und da etwas aufhebt, wegbringt, von der Bühne verschwindet und wiederkommt.
In eine groteske Zirkuswelt voll verlorener Seelen wollte Regisseurin Bernadette Sonnenbichler die Zuschauer des Theater Aachen entführen. Gelandet sind die Besucher nach knapp 90 verwirrenden, lauten, teilweise amüsanten und teils peinlichen Minuten in einer Welt voller Irrer, die zuviel Unsinn erzählen, aber ein riesiges bühnewirksames Spektakel vor einer tollen Kulisse aufführen. ///Kira Wirtz
2.,7., 13., 15., 22. und 28.10.
„Woyzeck“
20 Uhr, Theater Aachen
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