„Ich frage mich, warum sie mir all ihre Sachen gegeben haben.“ Eine alte Frau sitzt mit leerem, leicht wirrem Blick in ihrem einfachen, aber mit allerlei Dingen beladenen Zuhause und möchte eigentlich nur eine Geschichte erzählen. Sie wirkt ruhig und in sich gekehrt, bewegt sich langsam und versucht, sich an das Erlebte zu erinnern.
Mit ihr im Raum befindet sich ein junges Mädchen, das durch seine Art und sein Auftreten starrköpfig, ja sogar etwas zornig wirkt. Mal setzt sie sich mit verschränkten Armen auf den kleinen Sessel und schaltet den Fernseher ein, statt der alten Dame zuzuhören, oder dreht ihr einfach den Rücken zu. Die Alte lässt sich davon nicht beirren, bleibt ruhig und beherrscht und erzählt mit melodischer Stimme.
Vor langer Zeit („als ich noch jung war“) ging sie häufig spazieren, denn sie liebte die Natur. Oft kam sie an einem Feld vorbei, über das Bahngleise führten, „und dort war nichts außer einem Feld, kein Bahnhof, nur Feld“.
Von dort aus wurden Hunderte Menschen weggebracht. Ihnen war es nicht erlaubt, persönliche Dinge mit auf ihre Reise zu nehmen, also gaben sie der damals noch jungen Frau einfach alles: Brillen, noch warme Brotlaibe, Koffer, Kleidung, unzähligen Kreinkram, Wertvolles und Wertloses. „Wohin sie gebracht wurden, wusste ich nicht“, erinnert sie sich.
Noch heute stapeln sich verschiedene Gegenstände in ihrem Heim. Hinter ihr türmt sich ein Berg von alten Koffern. In einem Regal finden sich Bettzeug, Decken und Stoffreste. Sogar Schlittschuhe entdeckt man bei genauerem Hinsehen in einem vollgestopfen Schrank. Sie nahm diese ganzen Dinge mit in ihr Haus, bis sie gezwungen war, draußen zu schlafen. Und dennoch ging sie immer wieder zu diesem verlassenen Platz auf dem Feld und nahm noch mehr fremdes Hab und Gut an sich, katalogisierte penibel alle Dinge, um sie den Besitzern vielleicht irgendwann wiederzugeben.
Je länger die Dame erzählt, desto ungehaltener wird das ihr gegenüber sitzende Mädchen. Sie stürmt über die Bühne, wirft mit der Kleidung der alten Dame und zerstört ihre Kataloge. Und plötzlich, auf dem Gipfel des Streitgesprächs, wird klar: Die beiden Frauen sind ein und dieselbe Person. „Ich war danach nie wieder auf dem Feld,“ sagt die eine. „Nie wieder auf dem Feld“, echot die andere. Und so versinken sie gemeinsam in einer skurrilen Pose und es herrscht bedrücktes Schweigen im Besucherraum.
Endzeitstimmung kommt auf, wenn Beate Lohse als alte Frau von ihren Erinnerungen spricht. Dramatisch wählt sie Sprechpausen, blickt ins Publikum mit einem Blick, der so leer ist, dass man keine -Sekunde denkt: hier spielt jemand eine Rolle. Im Gegenteil hat man den Eindruck, hier stehe eine trau-rige Frau, die mit einer schrecklichen Geschichte beladen wurde, sich in ihr Schicksal fügte und dadurch einsam wurde. Zerbrechlich wirkt sie, wie sie über die Bühne schleicht. Stark, wenn sie beteuert, dass sie nicht mit der Vergangenheit hadert.
Es wird nicht ganz klar, ob es bei der Deportation der Fremden um den Holocaust geht, vielleicht ist es auch eine dunkle Zukunftsvision des Autors. Doch das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist der Umgang mit -diesem Thema, und der ist in „Der Regen“ zeitlos.
Vor allem die Zweiteilung der Person, die in der Kurzgeschichte von Daniel Keene so nicht vorkommt, macht die Inszenierung von Annette Schmidt so stark. Hatte man am Anfang nur mit der alten Dame Mitleid, nicht aber mit dem widerborstigen Mädchen, ändert sich das während der Vorstellung. Susanne Schieffer als junge Frau – übrigens in ihrer ersten Rolle am Theater K – berührt den Zuschauer genau wie ihre ältere Kollegin. Zusammen sind sie die Zeitzeugin einer schrecklichen Geschichte, und zusammen müssen sie lernen, mit Vergangenheit und Zukunft zu leben.
Ohne kurz zu wirken, ist das Stück bereits nach einer knappen Stunde vorbei. Das Fazit ist schnell gezogen: schön, spielstark, echt. Eine kluge Inszenierung, überzeugende Schauspieler, alles richtig gemacht. Das Publikum applaudierte 15 Minuten lang. /// kw
3., 15. und 24.5.
„Der Regen“
20 Uhr, Theater K
theater-k.de
Karten gibt es im Kapuziner Karree
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