Käfer im Anzug
Auf weißen Kissen sitzen zwei Schauspieler und ein Musiker. Im Wechsel beginnen Elke Borkenstein und Fredrik Jan Hoffman die Geschichte des Gregor Samsa zu erzählen, die Geschichte eines einfachen Handlungsreisenden, der gehorsam seinen Lohn zu Hause ablieferte. Eines Morgens erwacht er als riesiger Käfer. Er ist arbeitsunfähig und das ist ein Dilemma für die ganze Familie, den erfolglosen Vater, die asthmatische Mutter und die verwöhnte Schwester.
Mehr und mehr entwickelt sich die Erzählung zum Schauspiel. Das „Ungeziefer“ bleibt bei Bernadette Sonnenbichler ein Mann im Anzug. Hoffmann gibt in Gestik und Mimik den Gefangenen - gefangen in seiner Ernährerrolle, den Zwängen des Bürgerlichen, seiner Familie, seinem Anzug. Sachlich, dass es schmerzt, und zunehmend devot fügt er sich dem Zustand. Fühlt sich schlecht, weil andere seinen Anblick unter Ekel ertragen müssen, und weil mit ihm als Käfer der Familie nun die Existenzgrundlage unters Möbel krabbelt. Hoffmanns Gregor duckt sich vor dem Kreaturenschicksal. Ohne große Gesten schafft es Hoffmann, durch ausdrucksstarke Sprache die Unzulänglichkeiten eines Käfers zu offenbaren. Gregor führt große körperliche Anstrengungen auf kleinem Raum aus, um sich seiner Umwelt verständlich zu machen. Gregor wird vernachlässigt, sein Zimmer wird zur Rumpelkammer, in der er mit Äpfeln und Essensresten beworfen, ja bombardiert wird. Schließlich geht er ein.
Das neue Ensemblemitglied Elke Borkenstein spielt die Doppelrolle von Mutter und Schwester. Mal stakst sie als Mutter linkisch umher, mal wirbelt sie als Schwester Grete mit Blicken kokettierend durch den Raum. Grete zeigt allen, dass sie die einzige ist, die sich dem Käfer noch nähern kann und will. Ihre exzentrische Art und ihre ausschweifenden Gesten lassen offen, was sie tatsächlich mit ihrer Einfühlsamkeit bezwecken will. Vielleicht ist es nur der Hunger nach Macht.
Gregor ist kein fröhlicher Käfer und „Die Verwandlung“ kein fröhliches Stück.
Anton Berman untermalt die Erzählung am Akkordeon. Stoisch einfache Weisen geben den Familienalltag wieder, die Crescendi malen Gregors Todesängste und Berman lässt mit seinem Instrument leise die Flügel des Käfers knistern.
Sonnenbichlers „Verwandlung“ ist eine Familientragödie: Was ist schief gelaufen in der Familie Samsa? Es ist ein Stück über Schuld und Unschuld, über persönliche Fehler oder Fehler im System, über die Suche nach Identität. Lang anhaltender Premierenapplaus zeigte, dass Sonnenbichlers Sicht auf Kafkas Parabel angekommen ist. Und dennoch: Keine Parabel kann die Wirklichkeit übertreffen, sagte schon Kafka.
Foto: Will van Iersel
Termine:
6., 12., 14., 18., 20.10.
Theater Aachen, Mörgens, jeweils 20 Uhr
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