Von Ulrich Herzog
Phaeton hat Scheiße gebaut. Für den von ihm gesteuerten Sonnenwagen waren, so berichtet es Ovid in seinen Metarmorphosen, seine Fahrkünste zu bescheiden. Der Crash mit dem Gefährt verursacht eine globale Katastrophe. Das Leben auf dem Planeten kommt zum Erliegen. Oder war vielleicht doch dieses Virus aus Wuhan dafür ursächlich?
Die Frage stellt sich zwangsläufig beim Besuch von Francesco Cavallis Oper „La Calisto“, mit der das Theater Aachen musikalisch in seine neue Spielzeit startet – um tags darauf für den Rest des Monats seine Pforten für einen „Lockdown light“ wieder zu schließen. Das Libretto der Oper beruht auf dem Ovid’schen Stoff. Die apokalyptische Ausgangssituation könnte also aktueller nicht sein.
Die Inszenierung liegt in den bewährten Händen von Ludger Engels und seinem Team (Bühne: Ric Schachtebeck, exzellente Kostüme: Raphael Jacobs), die bereits in der vorletzten Spielzeit mit Händels „Trionfo“ Publikum und Kritik überzeugen konnten. Engels verortet die Handlung in einen Szene-Club. Auch dort ist alles heruntergefahren, trocken und öde. Das soziale Leben liegt brach. Wie in der Realität, droht auch hier ein Kneipensterben. Jupiter persönlich tritt zur Problemlösung an und versucht, wieder Leben in die Bude zu bringen. Und dafür hat er so seine Methoden. Sein Interesse gilt vor allem Calisto, einer Nymphe im Gefolge Dianas, die aber nur Gefühle für ihre enthaltsame Herrin hegt. Der listige Merkur weiß Rat und überredet Jupiter, Dianas Gestalt anzunehmen und Calisto zu verführen. Diese entdeckt daraufhin völlig neue Seiten an ihrer jetzt gar nicht mehr so sittsamen vermeintlichen Herrin, mit der sie sich in die Büsche zurückzieht. Unterdessen wird die richtige Diana (mit elegantem Mezzo: Fanny Lustaud), trotz ihres Keuschheitsgelübdes, ihrerseits heftig umworben. Aussichtsreichster Aspirant ist dabei der etwas verpeilte Endimione, der natürlich irgendwann dem transvestierten Jupiter in die Quere kommen muss. Auch das Erscheinen von Jupiters Gattin Juno führt zu Komplikationen. Sie rächt den Ehebruch, indem sie Calisto in eine Bärin verwandelt. Jupiter kann den Zauber abwenden, indem er Calisto für die Ewigkeit einen Platz als Große Bärin im nördlichen Sternenhimmel zuweist.
Oper in Coronazeiten stellt die Regie vor besondere Herausforderungen. Die Beachtung der AHA-Regeln auf der Bühne birgt die Gefahr des Rampensingens. Dem tritt Engels konsequent und kreativ entgegen, indem er Bewegung auf die Bretter bringt. Vogue ist das Rezept, ein gepflegter Tanzstil, der durch Madonnas gleichnamiges Musikvideo eine gewisse Popularität erfahren hat. „Strike a pose“ ist die Aufforderung, einen möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck anzunehmen und dem eigenen Körper eine geometrische Ausdrucksform zu verleihen.
Das gelingt den Akteuren auf der Bühne ausnahmslos und in überzeugender Weise. Auch gesanglich ist durchgehend Gutes zu vermelden. Aus dem vortrefflichen, jungen Solistenensemble ragen vor allem die Protagonisten Calisto (erneut superb Suzanne Jerosme) und Jupiter (als falsche Diana auch im Falsett: Fabio Lesuisse) heraus. Dass das für den Soundtrack zuständige Sinfonieorchester Aachen, souverän geleitet von Christopher Bucknall, auch in Barockinstrumentierung bestens unterwegs ist, wurde schon in den vergangenen Spielzeiten regelmäßig unter Beweis gestellt.
Der lang anhaltende, stürmische Applaus des pandemiebedingt stark reduzierten Publikums ist die folgerichtige Reaktion auf eine bemerkenswert gelungene Inszenierung. Bleibt zu hoffen, dass die Premiere nicht gleichsam zur Dernière mutiert und, nach einem hoffentlich baldigen Ende des Lockdowns, die nach dem 10. Januar noch geplanten weiteren Aufführungen stattfinden können. \
Zum Stück
Musikalische Leitung: Christopher Bucknall
Inszenierung: Ludger Engels
Bühne: Ric Schachtebeck
Kostüm: Raphael Jacobs
Choreographie: Ken Bridgen
Sounddesign: Tilman Kanitz
Dramaturgie: Pia-Rabea Vornholt
Aufgrund des erneuten Lockdowns bis voraussichtlich 10. Januar 2021 bitten wir Sie, sich beim jeweiligen Veranstalter über Öffnungszeiten und mögliche Terminänderungen zu informieren.
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