Von Peter Hoch
Frankreich, 1963: Anne bereitet sich auf ihre Abschlussprüfungen vor, nach deren Bestehen sie Literatur studieren will. Die Zwanzigjährige stammt aus einfachen Verhältnissen und hat es mit Intelligenz, Fleiß, Talent und Zielstrebigkeit schon jetzt weit gebracht, insbesondere angesichts der gesellschaftlichen Vorbehalte, mit denen sich Frauen selbst im fortschrittlich erscheinenden Frankreich noch immer konfrontiert sehen. Als Ausgleich zum eifrigen Lernen gibt es für sie und ihre Kommilitoninnen gelegentliche abendliche Feten, bei denen sie auch die jungen Männer aus der Gegend kennenlernen.
Als eines Tages Annes Periode ausbleibt und sie ihren Arzt aufsucht, bestätigt der ihr, dass sie schwanger ist. Eine niederschmetternde und höchst brisante Situation, denn für ein Kind fühlt sie sich einerseits noch viel zu jung, die Mutterschaft würde all ihre Zukunftspläne zunichtemachen. Auf der anderen Seite besteht in Frankreich, wie in den meisten Ländern jener Zeit, ein umfängliches Abtreibungsverbot mit harten Strafen für die betroffenen Frauen und alle Personen, die sie in ihren Vorhaben unterstützen oder auch bloß davon wissen. Anne weiß nicht, was sie tun soll, stößt bei den wenigen Menschen, denen sie sich anvertraut, auf Unverständnis, Ablehnung oder Furcht und wählt schließlich verzweifelt einen lebensgefährlichen Weg, den viele Frauen auch heute, sechzig Jahre später, noch immer weltweit beschreiten.
Die libanesischstämmige Regisseurin und Autorin Audrey Diwan hat den autobiografischen Roman der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux in einen intimen, außergewöhnlichen Film verwandelt. Dabei lässt sie das Publikum der Protagonistin durch die Wahl entsprechender Kameraeinstellungen sowie des beengt wirkenden 4:3-Bildformats stets ganz nahe sein und blendet auch dann nicht weg, wenn es wirklich schlimm wird. Annes Orientierungslosigkeit, Verwirrung, Angst und physische Schmerzen werden so im Rahmen des im Kino Möglichen immersiv spürbar – eine unangenehme und eindringliche, aber absolut sehenswerte und wichtige Erfahrung, der sich idealerweise auch Abtreibungsgegner*innen einmal freiwillig aussetzen sollten. Bei den Filmfestspielen in Venedig gab es im Herbst dafür verdientermaßen den Goldenen Löwen als „Bester Film“. Maßgeblichen Anteil an der maximalen Wirkung hat bei alledem Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei, die ihrer ebenso verletzlichen wie starken Figur durch minimalistische Blicke und Gesten alle notwendigen Nuancen verleiht. \
„Das Ereignis“
F 2021// R: Audrey Diwan
Start 31.3. | 100 Minuten | FSK 12
Unser Autor vergibt 5/5 Punkten.
Zum Thema
In Deutschland darf eine Abtreibung in der Regel bis zur zwölften Woche nach der Befruchtung und nach einem verpflichtenden Besuch einer anerkannten Beratungsstelle straffrei vorgenommen werden. Hilfreiche Informationen und Ansprechpartner zum Thema finden sich auf aachen.de leider nur „gut“ versteckt. Am einfachsten gelangt man zu der gewünschten Unterseite, wenn man im Suchfunktionsfeld das Stichwort „Schwangerschaftsabbruch“ eingibt. \
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