Von Martin Schwickert
Fünf Jahre lang haben die USA den in Bremen aufgewachsenen Türken Murat Kurnaz ohne Anklage oder Verurteilung eingesperrt und gefoltert. Im Oktober 2001 – wenige Wochen nach den Anschlägen des 11. September – reiste der 19-Jährige nach Pakistan, wurde dort bei einer Routinekontrolle verhaftet und gegen ein Kopfgeld an die US-Streitkräfte in Afghanistan übergeben. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort und landete unter Terrorismusverdacht im berüchtigten Gefangenenlager in Guantanamo, aus dem er erst 2006 entlassen wurde. Murats Freilassung war vor allem das Verdienst zweier Menschen: seiner Mutter Rabiye Kurnaz und des Bremer Menschenrechtsanwalts Bernhard Docke. In seinem neuen Film erzählt „Gundermann“-Regisseur Andreas Dresen von deren langwierigem Kampf um Gerechtigkeit nicht in Form eines Politthrillers oder Gerichtsdramas, sondern einer beherzten Tragikomödie. Der Schlüssel für diesen Zugang ist Rabiye Kurnaz, hinreißend und als echte Naturgewalt verkörpert von der deutsch-türkischen Moderatorin und Komödiantin Meltem Kaptan.
“Obwohl sie selbst noch keine Kinder hat, möchte man eine wie sie zur Mutter haben. Eine Frau, die die Welt umarmt und nach vorn stürmt. Eine Löwin!“ Regisseur Andreas Dresen über Hauptdarstellerin Meltem Kaptan Erst macht sie den örtlichen Imam zur Schnecke, der ihren Sohn auf die Idee gebracht hat, nach Pakistan zu fliegen. Dann stürmt sie ohne Termin ins Büro von Bernhard Docke (Alexander Scheer) und verlässt es nicht, bevor der Anwalt den Fall übernommen hat. Als sich herausstellt, wo Murat festgehalten wird, eröffnet sich die weltpolitische Dimension. Türkische und deutsche Behörden schieben sich die Zuständigkeiten gegenseitig zu und dass Verfassungsschutz und CIA nichts gegen den Gefangenen in der Hand haben, ist schon ein Jahr nach dessen Festnahme klar. Aber erst eine Sammelklage von betroffenen Angehörigen vor dem US-Supreme-Court bringt den Stein ins Rollen. Es ist eine klassische David-gegen-Goliath- Geschichte, die Dresen fernab aller Formatvorlagen mit viel Herzblut und Feingefühl in Szene setzt. Einfach umwerfend spielt Kaptan die energische Hausfrau und Mutter, die dem juristischen, politischen und geheimdienstlichen Ränkespiel den unumstößlichen Willen entgegensetzt, ihren Sohn zurückzuholen. Diese Konfrontation und die Gespräche mit dem hanseatisch trockenen Rechtsanwalt setzen aufgrund des bodenständigen Temperaments der Figur viele komische Momente frei, ohne dass die nervenzehrende Verzweiflung in dem jahrelangen Verfahren verschwiegen wird. Und so steht am Schluss auch ein Happy End mit gemischten Gefühlen: Bis heute haben sich die Verantwortlichen nicht bei Familie Kurnaz entschuldigt und noch immer werden 39 Menschen in Guantanamo ohne Anklage festgehalten. „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“
D/F 2022 // R: Andreas Dresen Start: 28.4. | 118 Minuten | FSK 6
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