Von Richard Mariaux
Das Jahr 2022 war ein fast schon wieder normales Jahr für die hiesige Kultur- und Musikszene. Die Clubs öffneten ohne Auflagen. Was bislang fehlte, war ein so zahlreich erscheinendes Publikum wie vor der Pandemie.
Egal, mit wem man sprach: die Resonanz der Besucher hatte sich deutlich verringert, in manchen Fällen auf ein erschreckendes Maß halbiert. Die Gründe sind vielfältig: ein mehr auf home sweet home umgestelltes Freizeitverhalten, eine generelle Vorsicht wegen der möglichen Ansteckung mit Corona, die Wohnungsnot und gestiegenen Energiekosten (was insbesondere Studierende, Auszubildende und sozial Schwache trifft), also letztendlich das liebe, liebe Geld. Wie bei allen Waren und Dienstleistungen schossen auch die Konzertpreise nochmals deutlich nach oben (siehe auch „Preise im Höhenflug“ auf Seite 11).
Bedingt durch die zwei „verlorenen“ Jahre der Pandemie gab es einen regelrechten Stau an nicht abgegoltenen Auftritten. Viele Clubs in Deutschland waren überbucht, die Festivals stellten sich der Verpflichtung von Künstlern und Bands, die sie 2022 vielleicht nicht mehr gebucht hätten. Deutlich wurde dies im Programm der Burg Wilhelmstein, wo sich die (fast) abendlichen Auftritte durch eine so lange Saison wie niemals zuvor erstreckten.
Ein Aufbegehren der lokalen Musikszene führte zu zwei schönen Ergebnissen: Nach dem Ende 2020 veröffentlichten Musiksampler „Ohne uns ist Oche still“ gab es im April 2022 das zum Sampler versprochene Live-Festival „Wieder Laut!“. Mit 28 Konzerten in neun Tagen in vielen Locations der ganzen Stadt zeigte eine auch von der Stadt Aachen unterstützte Szene, dass man willens war, selbst etwas auf die Beine zu stellen.
Als Experimentierfeld hatte 2021 das die lokale Kulturszene unterstützende Festival „Stadtglühen“ mit städtischen Geldern der Idee einer dezentralisierten Kultur den Weg bereitet. Aber erst 2022 drehte diese Neuheit als Planung aus dem Kulturbetrieb der Stadt Aachen bzw. dem mit der Organisation beauftragten Musikbunker an den nötigen Stellschrauben: Neben den temporären Standorten Templergraben für Studierende und Elisengarten im Zentrum ging die Kultur auf Wanderbühnen in die Stadtteile Burtscheid, Richterich, Frankenberger Viertel, Haaren, Eilendorf oder Brand – das kam gut an!
Schmerzlich vermisst, aber jetzt wieder da – die beiden Straßenfeste „LothringAir“ (Juni) und das „Südstraßen-Festival“ (Oktober). Zwei Beispiele für ein Tag/Wochenende mit allerbestem „Kiez“-Charakter für die ganze Familie, das mit hohem Publikumszuspruch bei bestem Wetter belohnt wurde.
Auch das erste sommerliche „Kimiko“-Festival auf dem Campus Melaten wurde entsprechend gefeiert: „Steiler Neustart“ schrieb der Klenkes im Juni und hob die auf Studierende zielenden Schwerpunkte HipHop, Electro, House/Techno und die Slams mit Comedy und Singer/Songwritern hervor. Drei Sommertage im August versüßten auch Machern wie Publikum das Wochenende beim „Kimiko – Isle of Art“-Festival im Hof und Garten des Ludwig Forum. Atmosphärisch ist dieser Park hinter dem Museum sicherlich der schönste Ort für ein relaxtes Festival weit und breit.
Junge Aktive in der lokalen Musikszene haben den Standort des alten Tuchwerks in der Soers ausgeguckt. Das „Vielgut“-Festival des Musiknetzwerk Aachen e.V. arbeitet auch gerne genreübergreifend zwischen Kunst und Musik. Der Verein unterstützt seit vier Jahren die junge Musikszene in der Stadt, veranstaltet Workshops, regelmäßige Jamsessions und nutzte die Festivalbühne für eine Paneldiskussion über die Veranstaltungsbranche. So gab es eine Debatte zwischen Aachens Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen, dem Leiter des Kulturbetriebs Olaf Müller und Rick Opgenoorth, Veranstalter des Kimiko Festivals, über die Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit der freien Kulturszene und der Stadtverwaltung.
Was Kunst und Musik in Kombination auf die Beine stellen, zeigte zum Jahresende die musikalische Fortsetzung der „Beat the System!“-Ausstellung aus dem Oktober 2021. Neun Veranstaltungen im Dezember 2022 legten den Schwerpunkt auf ein Liveprogramm, das sich im besten Sinne allen repressiven Systemen widersetzt und mächtig Empowerment für die Kunst und ihre AnhängerInnen freisetzt. Pussy Riot sind da sicherlich mit ihrem Auftritt einen Tag vor Silvester der passende Abschluss des Jahres 2022.
Am Rand
Im August zeigte die Demo der „Krachparade“ nochmals mit dem Finger auf die mangelhafte Kommunikation zwischen Stadt(verwaltung) und freier Szene. Ein halbes Dutzend mit Lautsprechern bestückte Wagen vom Krach Kollektiv, Musiknetzwerk Aachen, AZ, Musikbunker, The Base, dem Hotel Europa und viele mehr zogen für das Recht auf kulturelle Freiräume durch die Innenstadt.
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