Der Drache hat in der chinesischen Tradition einen festen Platz, unzählige Legenden ranken sich um das Untier und es darf bei keinem typisch-chinesischem Volksfest fehlen. In etwas weniger imposanter Umgebung trifft man den Drachen auch bei uns in Deutschland wieder – auf Speisekarten von asiatischen Take-away-Imbissen. Kaum eine deutsche Stadt, die nicht einen „Chinamann“ namens „Der goldene Drache“ zu bieten hat.
Wenn Roland Schimmelpfennig sein Stück, für das ihn die Mülheimer Theatertage zum Dramatiker des Jahres 2010 wählten, ebenso nennt, weiß er, dass das Publikum nicht mit einer altchinesischen Sage rechnet, sondern sich in der Nähe von Wok und Sojasauce wähnt. Und genauso ist es. Die Handlung beginnt in der Küche eines Thai-China-Schnellrestaurants, in hektischer Atmosphäre werden Bestellungen aufgenommen und weitergereicht, die Köche wuseln durcheinander und mittendrin ein junger Chinese auf der Suche nach seiner Schwester. Ohne Aufenthaltsgenehmigung – dafür mit rasenden Zahnschmerzen – versucht er, den Ansprüchen des Restaurantbesitzers zu genügen. Zum Arzt kann er wegen fehlender Krankenversicherung nicht, also wird kurzerhand die Rohrzange gezückt und der kariöse Übeltäter herausgebrochen. Der Zahn landet im Wok und damit nehmen die Absurditäten einen Anfang, die sich im restlichen Mietshaus fortsetzen…
„Schimmelpfennig offenbart uns einen Mikrokosmos menschlicher Abgründe“, sagt Regisseurin Ewa Teilmans. „In jedem Zimmer spielt sich ein anderes Drama ab – ein Ehekrach, eine ungewollte Schwangerschaft, Menschenhandel. Aber alles immer mit einem sensiblen Blick und berührender Leichtigkeit.“ Rätselhaft, skurril, mitunter brutal, aber mit komischen Lichtblitzen spitzt sich die Handlung zu. Der Einsatz märchenhafter Elemente ist typisch für Schimmelpfennig, etwa wenn er die Fabel von der Grille und der Ameise erzählt. Die Grille hat den ganzen Sommer gesungen und nichts für schlechtere Zeiten beiseite gelegt. Mit Einbruch der kalten Jahreszeit steht sie ohne Nahrung da. Die Ameise, die das ganze Jahr schuftet und rafft, weiß die Überlegenheit gekonnt einzusetzen. „Was kannst du denn“, fragt sie das Grillchen. „Ich kann tanzen…“ Auf die Realität des Stücks übertragen führt diese Naivität in die Prostitution der jungen Chinesin.
Bei der Inszenierung mussten (oder konnten) sich Teilmans und Dramaturgin Inge Zeppenfeld an genaue Vorgaben des Autors halten. Nach der Methode des Gender Crossings wurden fast alle Rollen geschlechtlich gegenbesetzt. So spielt Nele Swanton neben dem jungen Chinesen auch noch den Ehemann im gestreiften Hemd und den Piloten, Felix Strüven die Kellnerin, die Nichte, die Grille und den Großvater.
Mit blitzartigen Übergängen springen die 49 (!) Szenen der Schimmelpfenigschen Komposition vom Keller zum oberen Stockwerk und zurück zur Küche und sind vor allem durch die wechselnde Kostümierung nachzuvollziehen. Alle Schauspieler werden nahezu die ganze Spielzeit auf der Bühne bleiben.
Eine Besonderheit der Inszenierung liegt in der Wahl der Musik, die ausschließlich auf Schlaginstrumente zurückgreift. „Ich habe mich lange im Orchesterraum mit den verschiedenen Instrumenten beschäftigt“, erinnert sich Teilmans. Neben Gong und Pauke werden auch ungewöhnliche Sounds eingesetzt, etwa ein mit einem Bassbogen bearbeitetes Vibrafon.
„Schimmelpfennig hat ein ganz eigenes dramatisches Prinzip, eine Handschrift“, sagt Zeppenfeld. Durch Brechtsche Verfremdungseffekte entwickelten sich ganz neue Assoziationsfelder, die dem Publikum den Blick auf das Ganze eröffneten. „Den Anspruch auf Veränderbarkeit, den Brecht hatte, sieht Schimmelpfennig allerdings nicht, da ist er zu sehr Realist.“
Ohne voluminöses Bühnenbild und mit wenigen Darstellern wird bei „Der goldene Drache“ die pure Schauspielerei im Mittelpunkt stehen. Dass das Stück auch im großen Rahmen funktioniert, davon sind Teilmans und Zeppenfeld überzeugt. „Der Stoff ist so gut“, so Zeppenfeld, „der muss auf die große Bühne.“ /// Sebastian Dreher
21.4. (Premiere) und 28.4.
„Der goldene Drache“
19.30 Uhr, Bühne, Theater Aachen
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