Franz Woyzeck steht keineswegs auf der Sonnenseite des Lebens. Um mit seiner Familie seinen prekären Lebensumständen zu entfliehen, stellt sich der Soldat für dubiose medizinische Experimente zur Verfügung. Derweil erliegt seine Geliebte Marie den Avancen des Tambourmajors. Woyzeck wird oft als jemand gezeigt, der von seiner Umgebung gedemütigt und physisch und psychisch gezeichnet ist. Der Ansatz von Sonnenbichler ist ein anderer: „Woyzeck ist nicht schwach, er ist stark. Er hat den Durchblick in einer Welt voller Getriebener“, meint die Regisseurin. „Er zeigt uns die Abgründe, die sich jederzeit um uns herum auftun können.“
Mord aus Eifersucht, der Versuch aus dem gesellschaftlichen Käfig auszubrechen, die Wirkungskraft psychischer Störung – „Woyzeck“ bietet ein facettenreiches Interpretations-Spektrum. Den Dramaturgen Harald Wolff fasziniert über die inhaltliche Ebene hinaus auch die unfassbare Geschichte der Textüberlieferung: „Die Tinte konnte nur durch ausgefeilte forensiche Verfahren wieder lesbar gemacht werden, sonst gäbe es eines der wichtigsten Werke der deutschen Dramatik heute schlicht nicht mehr, trotzdem ist die Handschrift an vielen Stellen kaum zu entziffern. Die Szenenreihenfolge – und was überhaupt zum Stück dazu gehört – ist bis heute in der Forschung heftig umstritten. Wir haben uns für die radikale Fassung von Robert Wilson und Tom Waits entschieden.“ Diese besteht zu einem wesentlichen Teil aus den melancholischen, teils düsteren Lieder Waits’, sodass das Ensemble immer wieder singen wird, begleitet von einer 5-köpfigen Live-Band um Ludger Singer. Sonnenbichler zeigt sich begeistert: „Die Musik ist einfach richtig toll und macht Laune.“
„Tom Waits wäre Amerikas Springsteen, wenn Amerika ein anarchisches Land voller Zirkus-Freaks wäre“, meint Wolff. Ihn und Sonnenbichler fasziniert deshalb gerade die Kombination Büchner-Waits, die „erstaunlich gut“ funktioniere. Sie haben einen bösen Karneval erschaffen, in der Astronomen, dressierte Affen und bizarre Tiere aufeinander treffen. Außerdem hat sich Büchner als erster getraut, erklärt Sonnenbichler, „einen Unterschichtler auf die Bühne zu bringen. Für Menschen, die ihre Seele verloren haben, interessiert sich auch Waits: verlorene Menschen in einer grotesken, sinnentleerten Welt. Diese Menschen leben in permanenter Bodenlosigkeit.“ Diese Bodenlosigkeit macht das Stück für unsere heutige Zeit so bedeutsam. „Die Suche nach dem Sinn, kennen wir auch. Jeder wird gehetzt oder angetrieben, ist auf der Suche nach Halt; versucht das Leben sinnvoll zu leben und verläuft sich vielleicht bei dem Versuch.“
In ihren Kostümen verbindet Tanja Kramberger „die Militär- und Zirkuswelt in einem Look“, während Jens Burde als Kontrast zur bunten Zirkuswelt ein offenes Bühnenbild mit einer abgründigen Fläche gestaltet.
Büchners starke Überzeichnung der Figuren verschärft Sonnenbichler unter anderem, indem sie alle Figuren überspitzt und z.B. den Doktor von einer Frau spielen lässt. „Elke Borkenstein passte einfach perfekt auf die Rolle.“ Dass sowohl der Doktor als auch Marie, von Frauen gespielt werden, soll aber auf keinen Fall den erwecken, gerade Frauen seien für Woyzecks Schwächung verantwortlich. „Die beiden Frauen wollen etwas völlig Unterschiedliches von Woyzeck. Der Doktor sieht ihn als Objekt seiner Forschung, Marie als die Person, von der sie gehalten wird.“
„Philipp Rothkopf, der den Woyzeck spielt, nimmt uns mit in diese Welt“, sagt Wolff. „Er ist der Conferencier seiner eigenen Geschichte.“ Und Sonnenbichler wäre auf jeden Fall mit ihm befreundet, „weil er sich Fragen stellt, die ich auch habe.“
Nach „Kabale und Liebe“ eröffnet Sonnenbichler auch diese Spielzeit mit ihrer ganz individuellen Inszenierung eines Klassikers. „Es werden sich viele überraschende Erlebnisse ergeben, die man so bei Woyzeck noch nicht gesehen hat“. ///
Kerstin Pape / Kira Wirtz
Premiere: 18.9.
„Woyzeck“
18 Uhr, Bühne, Theater Aachen
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