Von Ulrich Herzog
Bei der Neuinszenierung der Oper „Werther“ am Theater Aachen wird, gleich nachdem sich der Bühnenvorhang geöffnet hat, klar: Das geht nicht gut aus für den Titelhelden. Eine spusi-typische Umrisszeichnung für seine künftigen sterblichen Überreste befindet sich bereits zu Beginn gleichsam als Menetekel auf dem Boden eines als Bühnenkulisse vorgesehenen, von Steffi Wurster gestalteten Kinosaals.
Der Franzose Jules Massenet schrieb die Musik zu dem vieraktigen Drame lyrique zwischen 1885 und 1887, nachdem er auf der Rückreise von einem Bayreuth-Aufenthalt in Wetzlar Inspiration durch den dortigen Genius Loci suchte. Goethe höchstselbst hatte dort als junger Rechtspraktikant 1774 die traumatische Erfahrung machen müssen, dass die von ihm angehimmelte, leider aber anderweitig verlobte Charlotte Buff ihm zwar ihre Freundschaft anbot, für sehr viel mehr aber nicht zu haben war. Goethe verarbeitete das für ihn krisenhafte Erlebnis in einem seiner berühmtesten Werke, dem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“, welcher die Basis für das Libretto von Massenets Oper bildete. Dort ist Albert der Verlobte und spätere Ehemann Charlottes, der dem ebenso leidenschaftlich wie hoffnungslos verknallten Werther schlussendlich die Waffe für seinen Freitod zuleitet.
Allzu große Sentimentalitäten sind nicht das Ding der in Aachen als „Wiederholungstäterin“ mit der Regiearbeit betrauten Corinna von Rad. Sie bevorzugt vielmehr subtilere Einblicke in die Psyche der Akteure, insbesondere in die von Werther, dessen von Soon-Wook Ka entliehenes Konterfei videounterstützt auf eine guckkastengroße Leinwand projiziert wird. Und hier bietet sich dann auch der Raum für eigene Interpretationen, weil der dramatischen Erzählstruktur eines Opernlibrettos naturgemäß die subjektive Blickwinkel von Goethes Briefroman fehlt. Ausdruck und Tiefe erlangen die Figuren letztlich aber durch die großartige Musik Massenets.
Bedeutenden Anteil hieran hat diesmal maßgeblich das Sinfonieorchester Aachen mit der Ersten Kapellmeisterin Yura Yang am Pult, die mit der Produktion ihr Hausdebüt abliefert. Bereits in der Ouvertüre entfaltet sich Massenets Partitur zu einem wundervollen spätromantischen Klanggebilde. Dabei lässt Yang ein sicheres Gespür für die Dimensionierung und die dynamischen Anforderungen des Raumes erkennen, der bei der auf die Premiere folgenden Aufführung an einem Sonntagnachmittag leider nicht sehr üppig besetzt war.
Die Gesangssolisten bieten musikalisch allesamt solide Leistungen. Soon-Wook Ka in der anspruchsvollen Titelpartie zeigt einen Werther ohne übergroßen Hang zur Theatralik und ist damit auf einer Wellenlänge mit der jungen, der Wiener Staatsoper entliehenen Alexandra Yangel (Charlotte), deren technisch tadelloser Mezzosopran künftig gewiss noch stärkere Ausdruckskraft und Persönlichkeit erhalten kann. Fabio Lesuisse ist ein smarter Albert mit einer angenehmen Baritonstimme und rechtfertigt in dieser Produktion erneut, dass sein Engagement für das Ensemble des Aachener Theaters eine sehr gute Entscheidung war.
Der Kinder- und Jugendchor zeigt sehr viel Spielfreude. Die Regie weist ihm eine „Brückenbauerfunktion“ zu zwischen der realen Lebenswelt Werthers und seiner Fantasie. Von Jori Klomp gewissenhaft einstudiert, lässt er auch musikalisch eine äußerst ansprechende Leistung erkennen. Ein Besuch einer der noch folgenden Aufführungen ist daher uneingeschränkt zu befürworten. \
„Werther“
diverse Uhrzeiten, Bühne, Theater Aachen
KlenkesTicket im Kapuziner Karree
WEITEREMPFEHLEN