Anthrazitdunkle Räume bilden einen atmosphärisch klaren Hintergrund für Belkis Ayóns nur um 1986 noch farbigen und bald raumgroß zusammengesetzten Collagen aus kleineren Matritzenplatten, die dann für Materialdrucke in fein abgestimmte grau-weiß-Abstufungen genutzt wurden (Collagraphien). Durch Bemalung und Überlagerung von Pappen und Fundmaterialien ergibt sich ein Flachrelief von freien Formen, dass im Druck in einen Papieruntergrund in mehreren Bearbeitungsvorgängen eingeprägt wird. So hat Belkis Ayón aus kleinen Segmenten, die in die Druckpresse passen, großformatige raumfüllende Werke zusammengesetzt, die die kubanische Grafik vorangebracht haben. Sie mischt dabei Bildelemente aus der christlichen und afrokubanischen Tradition. Ein in Original und Druck gezeigtes Abendmahlmotiv deutet sie mit Mitteln des Abakua-Kultes figurativ weiblich um und wendet sich so politisch doppelt gegen patriarchalische Strukturen. Auf der Suche nach geeigneten Themen für ihr Diplom an der grafischen Abteilung der Akademie in Havanna fand sie den noch ungenutzten Abakuá-Kult. Der in Kuba nur noch Männern vorbehaltene Geheimbund der Abakuá leiten sich von den Efik und Efo der Cross River-Region in Nigeria ab und ist in über 150 „Potencias“ (Logen) organisiert. Belkis Ayón beschäftigte sich mit den ursprünglichen Mythen, Symbolen und Erscheinungsformen und bildete daraus Figurationen und Gruppierungen weißer (verstorbener) und in Grauwerten abgestufter Silhouettenkörper in unterschiedlichen Haltungen, differenziert strukturierten Oberflächen aus ornamentierten Häuten und auf Augenlöcher reduzierten Gesichtsmasken, die auch für Verschwiegenheit stehen. Umgeben von rituellen Attributen (Bischofsstäbe, Kreuze, Pflanzen, Schlangen) werden Charaktere wie Wahrsagerpriester, Kriegergemeinschaftsprinzen, Leopardenmann, der Fisch als Träger sakraler Macht und die weibliche Sikán zum Vokabular Ayóns. Sikán wird geopfert, weil der Geist im Fisch starb, der ihr in den Wasserkrug schwamm. Seinen verstummten Klang soll ihre Haut als Trommel wiederbeleben. In ihrer Figur beschreibt und befragt Ayón ab 1991 die Rolle der Frau. Vorher zeigen Verdrängung vom Abendmahl oder die Übergriffigkeit der fischenden Männer, dass es mal anders war. Die Selbstermächtigung Sikáns lädt diese Figur mit Bedeutung auf. Im Modus dieser unterdrückten Frauengestalt des Mythos, der die kubanische Gesellschaft repräsentiert, arbeitet sie ungerechtes Urteilen, falsche Reue, Wunsch nach Seelenheil und Verarbeitung des Todes auf. Die großformatigen Bildthemen werden raumgreifend, neigen dazu, die Grenzen des rechteckigen Bildraums zu durchbrechen und werden nun weihevolle Szenen von Ritualhandlungen und Inszenierungen von Hierarchien. Sowohl christliche wie afrokubanische Macht-Strukturen galt es zu thematisieren und durch Überformung zu überwinden. Helldunkelvariationen und einfallsreiche Flächenstrukturen beeindrucken in ihrer visuellen Vielfalt, die unabhängig vom inhaltlichen Verstehen des Motivkreises ausgeklügelt positioniert und zeitgenössisch umgesetzt sind. Hier drückt sich Angst, Unzufriedenheit, Geheimnis, statische Bändigung, Spannung und Bewegtheit aus. Am Intensivsten in Rundfeldern, die kulturell mit Fellen der heiligen Trommel Ekué korrespondieren, die für ein übernatürliches Wesen steht, hier für individuelle Nöte, die in die Haut eingeschrieben werden. Rastlose Bewegtheit wirbelnder Untergründe, Lodern, Ausdrücke von Schmerz und Intoleranz in den Titeln lösen sich vom Mythenvokabular zu persönlichen Gefühlen, die man in subtilsten Grauabstufungen zu entziffern hat, um im unscheinbar Unplakativen umso explosivere Umwertungen angemahnt zu finden. Bildkünstlerisch von magischer Sogkraft auch ohne Kontext. \ Dirk Tölke
bis 26.2.2023 Belkis Ayón – „Ya Estamos Aquí“ Ludwig Forum für Internationale Kunst Zusatzinformationen Die kubanische Künstlerin Belkis Ayón wurde 1967 in Havanna auf Kuba geboren, fiel schon als Zwölfjährige durch ihre Begabung auf und wurde 1979-82 gefördert durch den Besuch einer Grundschule für plastische Künste. 1982-86 studierte sie an der National-Akademie der schönen Künste San Alejandro in Havanna und 1986-1991 an der Hochschule für Künste (ISA) in Havanna mit einem Abschluss in Grafik. Sie nahm sich am 11. September 1999 nach einer kometenhaften internationalen Karriere das Leben.
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