Paradoxerweise hatte die Medienfülle von „Hyper Real“ in ihrem Rückbezug auf Bekanntes und vielfach Erklärtes eine zwar kurzweilige aber dennoch statische Komponente. Dessen wird man umso mehr gewahr, wenn nun in Abwesenheit der visuellen Reize mit unserem Gehör ein ganz anderer Sinn und damit eine ganz andere Aufmerksamkeit gefordert wird.
„Seven tears“, eine über 23 Lautsprecher eingespielte Klang-Installation der schottischen Künstlerin Susan Philipsz, setzt mit den Schallwellen Erinnerungsvermögen, Emotion und Sensorik des Zuhörers in Gang.
Über die Mulde in der zentralen Halle hinweg, über die Treppen, die in das Untergeschoss führen, und in den seitwärts liegenden Ausstellungshallen erklingt die in sich gekehrte Stimme von Philipsz mit A-Capella-Gesängen aus dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Rechts und links der Drehtür am Eingang ergeben einzeln eingespielte Töne einer Violine sieben verschiedene Melodien. In dem 3.000 Quadratmeter große Erdgeschoss des LuFo bilden die verschiedenen Arbeiten auf diese Weise einen akustischen Parcours, die Stimmen scheinen einem körperlosen weiblichen Wesen aus dem Elisabethanischen Zeitalter zu gehören, das den Besucher auf unsichtbaren Pfaden durch die Schirmfabrik führen will.
Bei der Auswahl der Stücke hat Susan Philipsz auf sechs Arbeiten der bedeutenden Renaissance-Komponisten John Dowland, Orlando Gibbons, John Bennet und Thomas Ravenscroft zurückgegriffen, die im vergangenen Jahr von ihr in der City of London im Rahmen der Arbeit „Surround me“ installiert wurden. Die Madrigale, Rundgesänge und Kanons erklangen in unmittelbarer Nähe zu historischen Handelsplätzen, an Orten, die heute an Wochentagen von über 300.000 Menschen täglich frequentiert werden, an Wochenenden aber wie verlassen wirken. In Aachen bringt die Turner-Preis-Trägerin nun die sechs existierenden Werke mit einem siebten, neu eingesungenen Stück zusammen.
Der Titel „Seven tears“ leitet sich von John Dowlands Komposition „Lachrimae or Seven tears“ ab, ursprünglich für Laute geschrieben, hier aber von einer Violine gespielt. Dabei handelt es sich um sieben Instrumentalstücke, die sieben verschiedene Tränentropfen beschreiben. Die reiche Metaphorik des Fließens in den ausgesuchten Stücken bildet in Philipsz’ Ansatz für die Aachener Arbeit denn auch das Metathema. Sie stellt den Bezug zur historischen und kulturellen Bedeutung der Thermalquellen in Aachen her. Und empfindet das Ludwig Forum u.a. wegen der Architektur mit der Mulde und deren entfernter Ähnlichkeit zu einem Badehaus als „prädestinierten“ Ort für die Ausstellung.
Nun ist das LuFo mit Sicherheit das Gegenteil von einem prädestinierten Aufführungsort, wenn es um die Akustik geht. Aber wo für ein Konzert die Probleme mit der Weite der Halle, den Deckenhöhen, den Raumtiefen und der Dachkonstruktion beginnen, da trifft Philipsz tatsächlich auf ideale Verhältnisse für das, was sie den „skulpturalen Charakter“ der Klangkunst nennt. Sie positioniert die verschiedenen Lautsprechertypen so, dass ein klares Klangerlebnis möglich ist – Wiederhall, Verzögerungen, Überlagerung und Pausen sind Teil der Choreografie. Zum Spiel mit den Effekten gehört auch, dass etwa der Rufgesang „New Oysters“ oder das fröhlich-ausgelassene „To the greenwood“ aus Bahnhofsgleis-Lautsprechern kommen. Der mechanische Ansagen-Duktus sorgt für atmosphärische Irritation. Aber es kommt an keiner Stelle zu Dissonanzen. Die Gesänge dürfen sich nicht gegenseitig stören. Und so erklingt „The Silver Swan“, das schwermütige Madrigal vom Tod und Vergehen der Schönheit, auch bewusst abseits und solitär.
Durch das Klanggebilde „Seven tears“ richtet sich der Blick des Betrachters beim Umherwandern durch die leeren, hohen Räume unweigerlich nach Innen. Damit nichts vom kontemplativen Akt des Zuhörens ablenkt, wurden alle übrigen Kunstwerke außer Sichtweite geschafft. Die nicht fürs Singen ausgebildete Stimme von Susan Philipsz lässt zudem bei allem Geisterhaften eine persönliche Nähe zu. Erinnerungen werden getriggert – eine Mutter singt für ein Kind, Lieder aus der Vergangenheit, Singen gegen die Angst im Dunkeln, Gesang als Begleiter.
bis 25.9.
Susan Philipsz – Seven Tears
Ludwig Forum für Internationale Kunst
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