Von Karin Jirsak
Im Juli gewann erst zum zweiten Mal in der Geschichte der Filmfestspiele von Cannes eine Frau den Hauptpreis des Wettbewerbs, die Goldene Palme: Die Französin Julia Ducournau überzeugte die Jury mit einem Beitrag, der des Öfteren als „Horrorfilm“ bezeichnet wurde. Doch man würde der Regisseurin großes Unrecht tun, die Ambivalenz und Vielschichtigkeit ihres radikalen Werks so einfach zu ignorieren.
Ja, „Titane“ ist wie ein Tritt in die Eingeweide. Unerwartet, verstörend und bis weit über die Schmerzgrenze brutal. Aber der diesjährige Sieger an der Côte d’Azur ist natürlich kein leerer Gewaltexzess und schon gar kein Horrorfilm; vielmehr legt Julia Ducournau mit ihrem psychologischen Thrillerdrama eine hochästhetische und, bei aller Brachialität, hochsensible Studie über die Wechselwirkung zwischen Trauma und (Geschlechts-)Identität vor. Trauma, ein Begriff aus dem Griechischen, meint in der Medizin eine durch äußere Gewalteinwirkung entstandene Zerstörung von organischem Gewebe und in der Psychologie eine Verletzung der Seele, die in schweren Fällen die Zerstörung der Persönlichkeit zur Folge haben kann. Beide Aspekte lässt die bereits für ihr Debüt „Raw“ (siehe Spalte rechts) gefeierte Regisseurin hier ineinanderfließen und überzeichnet sie ins Groteske – ein brillantes Vorgehen, um mit ungeheuerlicher Symbolwucht das Unsagbare zu erzählen, das sich in traumatisierte Körper und Seelen einschreibt.
Alles beginnt (scheinbar) mit einem Autounfall. Das Kind, das eben noch auf dem Rücksitz die Geräusche des Motors imitiert hat und dafür vom Vater angeschrien wurde, war nicht angeschnallt. In der nächsten Szene sehen wir die kleine Alexia im Krankenhaus, den geschorenen Kopf in ein Metallgestell geschraubt, eine spiralförmige Narbe über dem Ohr. Eine Titanplatte wurde in ihren Schädel implantiert. Ungerührt sitzt das Mädchen auf dem Bett, es scheint keine Schmerzen zu haben. Als es die Klinik verlassen darf, läuft es sofort auf das Auto zu, in dem es beinahe sein Leben verloren hätte, und bedeckt es mit Küssen wie einen lang vermissten Freund. Auch als Erwachsene erwärmt sich Alexia, die als erotische Tänzerin auf Autoshows arbeitet, mehr für Motoren als für Menschen. Eine Trauma-Bindung mit bizarren Folgen. Für das, was dann folgt, ist der viel bemühte Begriff „Tour de force“ kaum ausreichend. Neuentdeckung Agathe Rousselle entfacht als bionische*r Gestaltwandler*in Alexia ein abgründiges Inferno und erschafft eine Instant-Ikone des queeren Arthouse-Films. Krank? Ja. Aber auf geniale Art. \
Erstwerk
Schon mit ihrem Debütfilm „Raw“ von 2016 schockte Julia Ducournau die Zuschauer in Cannes. In dem atmosphärisch und akustisch verstörenden, allegorischen Arthouse-Drama im Kannibalenfilmgewand geht es um eine Erstsemester-Studentin an einer Hochschule für Veterinärmedizin, die im Rahmen der Uni-Initiationsriten als Vegetarierin zum Fleischverzehr gezwungen wird und bald darauf eine für alle Beteiligten grauenvolle Verwandlung durchlebt. \
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