Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, heißt es. Die drei Visionäre von Dlé (Florian Hertweck, Malcolm Kemp und Tim Knapper) lassen sich von dem berühmten Zitat wenig beeindrucken, an langer Leine lassen sie ihren eigenen freien Lauf. Überhaupt ganz schön raffiniert, dieses Zitat einzubauen, dessen Ursprung nicht ganz geklärt ist. Stammt es wirklich von Altbundeskanzler Schmidt? Ob Original oder Fälschung, Mär oder Wirklichkeit, in diesem krass spektakulären DléVersum, das wie ein Traum, bar jeder Logik, aber voller Scharfsinn ist, werden auf dem Catwalk nicht des Kaisers neue Kleider, sondern Karl selber vorgeführt. Samt seiner ganzen Entourage.
Mit diesem ganz und gar ergötzlichen Spektakel katapultiert Dlé das Volksstück mit Karacho ins 21. Jahrhundert. In diesem ehrenwerten Haus wird die Aufsässigkeit des Volksstücks regelrecht zelebriert und an lokalen Anspielungen mangelt es, versteht sich, auch nicht. Diesmal aber ohne auch nur ein Funken Kleinbürgerliches. House of the Dragons für die Öcher Seele.
Wird hier ein neues Bild aufgebaut oder ein altes demontiert? Fällt die Statue des Herrschers, wie einst die Götter des Kommunismus von ihren Sockeln gefallen sind, oder wird ihm ein neues Standbild errichtet? Oder hinken gar die Vergleiche, wie der unübersehbar fehlende Zeh auf dem riesigen, mittig auf der Bühne thronenden Fuß uns vor Augen führen möchte?
Mit diesem schlicht genialen Bühnenbild, vielmehr mit dem fehlenden Zeh, haben die Macher dem Volk Futter zum Nachdenken hingeworfen. Könnte aber auch nur ein kleiner Seitenblick zu Karl dem Kleinen sein, der in altbewährter Comic-Manier nur vier Finger hat. Karl etwas kleiner machen und dabei nonchalant über das politisch Korrekte hinwegsehen – eine wilde Mixtur, eine kluge (De-)Montage eines großen Mannes und so ganz nebenbei eine augenzwinkernde Abrechnung mit den Medienmachern, früher schlicht Chronisten genannt, die ihr Fett ähnlich rigoros wegkriegen wie ihre Objekte von Interesse.
Vergesst die Minifontänen am Elisenbrunnen – wie Geysire schießen die Sätze in die Höhe und ein wilder Sprachenmix prasselt auf einen nieder, Mittelalter und Moderne geben sich die Hand, ein wenig Rafting auf dem stürmischen Fluss des Rap. Gespickt mit Sprachvarietäten einerseits und einer kleinen Exkursion in Sprachwandel andererseits, entfaltet dieser wahrlich nicht einfache Text seine volle Pracht durch die exzellente Performance der Akteure. Welch eine Kraft strömt von Carolina Braun, Jonas Dumke, Tim Knapper, Stefanie Rösner und Philipp Manuel Rothkopf!
Faszinierend, wenn der mit Sicherheit steinige Weg des (Er-)Lernens solch eines herausfordernden Werkes in ein müheloses Manövrieren durch Intonation, Stilebenen und Dialekten endet. Bravo! Ein komplexes Laufwerk kann nur dann funktionieren, wenn alle Räder fein aufeinander abgestimmt sind, und in diesem Fall ist die Justierung hervorragend gelungen. Um die Reihe der geschmeidig laufenden Räder vollzumachen, müssen natürlich die großartige Kathrin Krumbein (verantwortlich für die famosen Kostüme und die bereits erwähnte Bühne), Luca Fois (seine Videokunst ist immer vom Feinsten), die Lichtgestalter Manuel Michels und Yannik Funken und natürlich das musikalische Trio Malcolm Kemp, Joonas Lorenz und Samuel Reißen mit Nachdruck erwähnt werden.
Ein rasanter Trip voller subtilem bis bitterbösem Humor, ein Schauspiel, das die volle Breite theatralischer Überspanntheit auskostet.
Ein exzentrisch schriller Ausflug in musikalische Nischen und sprachliche Landschaften, tiefgründig und crazy zugleich. Und gerät auch die Statue Karls mächtig in Schieflage, gestürzt wird er nicht, er wird einfach nur ordentlich zurechtgezupft. \Enikö Kümmel
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